Kapitel 8: Für mich


Es gibt Gedichte, die sich direkt oder indirekt auf eine Person beziehen, manchmal beziehen sie sich auch auf eine spezielle Eigenschaft, eine Aussage, ein Werk dieser Person oder eine Situation, in der sie sich befindet. So entstehen Gedichte, die einer bestimmten Person "gewidmet", zugeeignet sind. Ich präsentiere heute zwei dieser Gedichte, sie stehen mir nahe. Das Gedicht von Sabine Gruber ist Ilse und Fritz gewidmet, also uns beiden. Wenn ich es lese spüre ich einen kleinen Anflug von Salzgeschmack im Mund - oder bilde ich mir das ein? Und: Salzgeschmack, das kann viel bedeuten! Ich versuche , diese subjektive Wirkung zu beschreiben. Ist sie eine erwünschte oder unerwünschte Wirkung? Halt, ein Gedicht ist ja kein Medikament! Oder doch? Wörtlich übersetzt ist ein Medikament ein Heilmittel. Auch ein Gedicht kann durchaus ein Heilmittel sein, ja das ist möglich. Es entsteht also beim Lesen milder Salzgeschmack und eine kleine Enge im Hals. Der Salzgeschmack mag eine Illusion sein, eine "textgebundene Halluzination", aber warum fühlt er sich angenehm an? Hm, ich schrieb einmal die Gedichtzeile "Ich lache immer, wenn ich weine". Könnte es sein, dass das Lachen mit dem Weinen so eng verwandt ist, dass der halluzinierte Geschmack von Salz ein kleines Lächeln hervorruft? Und die Enge im Hals? Sie erinnert mich daran, dass ich schlucken muss, dann verabschiedet sie sich. Ich lese das Gedicht nochmal. Ich mag es, wenn mich Kunstwerke traurig machen. Ich könnte auch sagen, ich mag es, wenn Kunstwerke (m)einer Traurigkeit einen Ausdruck verleihen, einer Traurigkeit, die wahr genommen werden will. Was genau an diesem Gedicht der Traurigkeit einen Ausdruck gibt? Es beginnt schon mit dem Titel "Nur Mut!" Und wenn ich "Bin ich bei Trost" lese, so wird mir auch die Eleganz dieser Wendung klar. Bei Trost sein ist eben auch "getröstet sein". Wer hätte das nicht nötig, mindestens manchmal.Wer es aber genau wissen will, muss das ganze Gedicht lesen. Da ist es.

Sabine Gruber

Nur Mut

Das Geballte kommt als Wölkchen
Aber das Wölkchen ballt sich nicht

Kein Saft im saftigen Grün
So sehr ich mich auch bemühe.

Im Stoppelfeld. Im Heuhaufen
Bin ich bei Trost. Hör ich das Gras.

Versteh einer den Schweiß im Sommer.

Das folgende Gedicht von Margret Kreidl ist mir allein gewidmet. Es bezieht sich ganz klar auf meine persönliche Situation, nämlich die Tatsache meiner schweren Erkrankung. Ich habe es des öfteren laut gelesen, wie eine Beschwörungsformel und, ja, es klebt an meinem Schreibkasten. Es macht mich traurig, weil es eben nicht selbstverständlich ist oder war, dass ich wieder gesund werde. Und ich denke darüber nach, was Gesundheit eigentlich bedeutet. Ich meine jetzt nicht die Tatsache, dass es wichtig ist, gesund zu sein, dass alle Menschen gerne gesund wären und dass es natürlich ungerecht ist, wenn es die einen sind und die anderen nicht. Ja, aber was ist das eigentlich: Gesundheit? Bemerkt man sie? Nein, nicht immer. Was ist Krankheit? Auch sie bemerkt man nicht immer. Und außerdem ist Gesundheit eigentlich, will man der WHO glauben, mehr als "Freiheit von Krankheit", sondern "ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen." Anlässlich dieser Definition frage ich mich gerade, wie viele Menschen ich kenne, die gesund sind. Jedenfalls fühlte ich mich gesund, bevor ich die Diagnose erhielt. Da war aber die Behandlung bereits erfolgt, also ich war eigentlich schon wieder gesund.
Margret Kreidl schrieb mir das Gedicht, während ich nicht wusste, ob ich mich nun im Zustand der Krankheit oder der Gesundheit befinde. Ein Gedicht der Stärkung gewissermaßen. Hier kein Salzgeschmack, sondern das innere Bild einer Kuh und der kugelrunden Welt, die sich unbeirrt dreht (mit mir drauf).

Margret Kreidl

nachtgebet

müde bin ich
geh zur ruh
sag zu ilse du
die welt ist kugelrund und
du wirst wieder ganz gesund
schließe meine äuglein zu
träume von der großen mutter
die Milch gibt sie sagt muh
und du und du und du
alles ist in butter
muh muh.


Das Gedicht steht da und ich bin gesund.
Gesundheit ist immer eine Momentaufnahme, das weiß ich. Ich schreibe also heute, am
3. Oktober 2014:
Das Gedicht steht da und ich bin gesund.

(Die beiden zitierten Gedichte finden sich in dem Gedichtband "Kritze Kratz das Leben", den ich gemeinsam mit Fritz Widhalm herausgegeben habe.)