Nellie Lutcher: "He's A Real Gone Guy" (1947)


Nellie Lutcher war Jazzsängerin, würde ich mal so sagen, obwohl ich sie genausogut als Bluessängerin oder Rhythm’n’Bluessängerin bezeichnen könnte. Will sagen, ich kann diese 3 Genres nicht so recht unterscheiden, wobei ich mir nicht sicher bin, ob das überhaupt jemand kann und ob es wirklich Sinn macht. In meiner Jugend stand ich dem Jazz eher ablehnend gegenüber, na ja, vielleicht ist ablehnend etwas übertrieben, auf jeden Fall war ich ziemlich misstrauisch was den Jazz betraf, und die paar Jazzhörer, die ich kannte waren auf eine seltsame Art erwachsen und - irgendwie kamen sie auch ziemlich spießig bei mir an. Jazz hatte einfach wenig Aufregung zu bieten und - ich liebte Aufregung als Jugendlicher über alles. David Bowie war Aufregung, ja, und Brian Eno von Roxy Music war Aufregung, huch, Glamrock brachte einfach meine anerzogene Männlichkeit ziemlich ins Schwanken: Move your ass and your mind will follow. Okay, das ist Funkadelic, aber der und die waren auch ziemlich aufregend und hatten für mich damals nichts mit Jazz zu tun. Irgendwie ahnte ich zwar schon, dass es auch einiges an Aufregung im Jazz geben muss, da ich begeisterter Beat-Generation-Leser war und in dieser Literatur der Jazz doch eine bedeutende Rolle spielt, aber ich konnte Jazz nicht hören, wollte Jazz nicht hören. Eines Tages fuhr ich dann nach Wien, um mir in der Stadthalle ein Rockkonzert anzuhören, Emerson Lake & Palmer oder Jethro Tull glaube ich mich zu erinnern, yeah, und am nächsten Tag gabs in der Stadthalle ein Jazzkonzert und ich ging hin, einfach weil ich schon mal da war, und sah den alten Jazzpianisten Earl 'Fatha' Hines, er muss damals bereits über 70 Jahre alt gewesen sein, wow, und plötzlich konnte ich die Aufregung im Jazz wahrlich sehen, hören, riechen, spüren und schmecken. Earl 'Fatha' Hines spielte Piano und wurde von Kontrabass und Schlagzeug begleitet. Keine Ahnung mehr, wer die anderen Musiker waren. Jedenfalls ab diesen Konzert begann sich etwas Jazz in meine Ohrgewinde zu schleichen, wobei ich mich anfänglich auch ein bisschen dafür schämte und mein neues Interesse eher versteckte als dass ich darauf aufmerksam machte und öffentlich Begeisterung zeigte. Komisch, aber so war es - oder so fühlt es sich in meiner Erinnerung an. Ich glaube, wir denken sehr viel mehr mit den Instrumenten, die uns durch unsere Kultur zur Verfügung gestellt werden, als mit unseren Körpern, was der Grund für die große Vielfalt unseres Denkens ist. Ich denke, dass Denken eine Art Fühlen und Fühlen eine Art Denken ist, sagte Susan Sontag in einem Interview. Im gleichen Interview sagt sie an anderer Stelle: Ich denke, wir müssen nicht nur marginale Existenzen und Formen des Bewusstseins zulassen, sondern ebenso alles Ungewöhnliche und Abseitige. Ich bin entschieden für AbweichlerInnen. Danke, Susan Sontag, aber jetzt kommen wir zu Nellie Lutcher: He's gentle he's great he's all the world to me / He knows what to do when i am feeling blue / He grabs me and whispers theirs no one in the world but you / He is real gone / He's real gone / He's a real gone guy and i love him yes i do. Nellie Lutcher wurde 1912 in Lake Charles, Louisiana geboren und erhielt bereits als Kind Unterricht in Gitarre-, Geige-, Mandoline- und Klavierspielen. Die Lutchers waren eben eine sehr musikalische Familie, Vater Isaac Lutcher war Bassist, Mutter Susie Lutcher Organistin, Bruder Joe Lutcher Saxophonist und Neffe Daryl Jackson Perkussionist. Bereits mit 12 Jahren begleitete Nellie Lutcher die Bluessängerin Ma Rainey bei einem Auftritt am Klavier und mit 14 Jahren schloss sie sich Clarence Harts Imperial Jazz Band an. Nächste Station waren die Southern Rhythm Boys von Paul Barnes und 1935 zog Nellie Lutcher nach Los Angeles, spielte Swingpiano im Club Alabam und begleitete Sängerinnen wie Lena Horne oder Ivie Anderson. In dieser Zeit begann Nellie Lutcher auch selbst zu singen und Songs zu schreiben. Es dauerte aber noch bis 1947, bis ihr Capitol Records einen Plattenvertrag anbot und sie mit dem Song "Hurry On Down" ihren ersten Hit in den Rhythm’n’Blues Charts hatte. Nellie Lutcher war zu diesem Zeitpunkt bereits 35 Jahre alt. 1948 hatte sie mit den Songs "He's A Real Gone Guy" und "Fine Brown Frame" weitere Hits. Auch ihre Duette "For You My Love" und "Can I Come In For A Second" mit Nat King Cole 1950 waren sehr erfolgreich. Nellie Lutcher machte Anfang der 50er Jahre zwei Europatourneen. Als die Verkaufszahlen nachließen verlängerte Capitol Records ihren Vertrag nicht und Nellie Lutcher veröffentlichte ab Mitte der 50er Jahre bei kleineren Labels wie OKeh, Decca und Liberty Records. Nellie Lutcher trat bis in die 90er Jahre regelmäßig in Clubs auf, absolvierte zahlreiche Fernsehauftritte und 1994 spielte sie sich in der Filmkomödie "Sunny Side Up" der Regisseurin Bettina Speer selbst. Nellie Lutcher starb 2007, im Alter von 95 Jahren, in Los Angeles. Den Song "He's A Real Gone Guy" findet man auf dem Album "Nellie Lutcher - Real Gone Gal!", das 1985 bei Stateside Records erschienen ist, aber auch auf der 4CD-Box "And Her Rhythm" 1996 bei Bear Family Records, die Box ist sehr empfehlenswert, aber leider nicht gerade billig - ja, und im Netz ist auch einiges zum Anhören zu finden. Zitieren wir zum Abschluss William S. Burroughs: Hört zu. Hört jederzeit genau zu... ...die Ohren offen zu halten ist keine Geschmacklosigkeit. Okay, sagen wir Nellie Lutcher war Soulsängerin, oder liege ich da ganz falsch?