Günther Kaip:
lichterloh
1996, 64 Seiten, öS 90.- / DM 13.-

3-900956-31-6

 

 

lichterloh (leseprobe)

Das Bild

Laura sagt zu Judith.
"Das Bild, das wir von uns besitzen, ist ein Versiegeltes. Aus allen Richtungen strömen Menschen herbei, um das Siegel zu erbrechen. Dann wird das Bild weitergereicht, man wägt sein Gewicht auf den Handtellern oder hält es wie ein Schild vor die Brust, vermeidet es jedoch, in sein Inneres zu blicken. Für einen Augenblick, gleichsam in der Schwebe, offenbart es sich und schenkt für Sekundenbruchteile Einblick in sein Inneres, bevor es sich wieder verschließt und zur Kugel wird. Anschließend rollt es über die schräge Fläche unserer Vorstellungen zu einem Abgrund, in dem alles, was außerhalb von uns liegt, versammelt ist. Aus Gewohnheit muß das so sein. Aber," Laura flüstert und hebt den Zeigefinger, "es kommt auch vor, daß Teile von uns dort lagern, eben jene Eigenschaften, für die wir uns schämen. Unser Bild bleibt vor diesem Abgrund stehen und schätzt die Höhe des freien Falls, bevor es springt. Unser Bild fällt. Wenn es zerplatzt, beschäftigen wir uns schon längst mit einem anderen, auf jedem Fall muß es versiegelt sein. Verstehst Du," sagt Laura zu Judith, die sich lachend die Ohren zuhält.
"Und wie geht es weiter", brüllt sie.
"Das weiß ich nicht. Aber die meisten Menschen sterben dabei", erwidert kleinlaut Laura.