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(leseprobe)
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heute. mein schreibtisch hinterlässt einen aufgeräumten eindruck.
der aschenbecher hinterlässt einen falschen eindruck. eigentlich
rauche ich im wohnzimmer nicht. ich rauche nur in der küche oder
im caféhaus. der aschenbecher ist aber ein fixer bestandteil der
ordnung auf meinem schreibtisch. er dient der beruhigung meiner nerven.
das buch unter dem aschenbecher und der plastikbox mit cd-rohlingen ist
ein sehr schönes buch: amazonen der avantgarde, herausgegeben
von john e. bowlt und matthew drutt. dieses buch dokumentiert die evolution
der modernen russischen malerei von der jahrhundertwende bis zu den frühen
zwanziger jahren am beispiel von sechs künstlerinnen, die im mittelpunkt
dieser entwicklung standen: alexandra exter, natalja gontscharowa, ljubow
popowa, olga rosanowa, warwara stepanowa und nadeschda udalzowa, schreibt
matthew drutt. mein grosser liebling ist warwara stepanowa. neunzehnsiebzehn
begann warwara an gegenstandsloser visueller dichtung zu arbeiten und
produzierte zwei bücher. warwara erklärte: „ich verbinde
die neue bewegung gegenstandsloser dichtung als klang und buchstabe mit
der malerischen wahrnehmung, und dies verleiht dem klang der verse eine
neuartige, lebendig-visuelle wirkung... ...ich nähere mich hier einer
neuen kreativen form. durch die malerisch-graphische reproduktion der
gegenstandslosen dichtung meiner zwei bücher sigra ar und
rtny chomle führe ich gleichzeitig klang als neue qualität
in das malen visueller elemente ein und bereichere dadurch quantitativ
deren möglichkeiten.“ ja, ich liebe warwara stepanowa. nein,
ich kenne die beiden bücher von warwara nicht. ich kenne nur die
zehn abbildungen aus diesen büchern, die sich im buch amazonen
der avantgarde befinden. ich habe mir ein bild von warwara gemalt
und mit roten reisnägeln über meinem schreibtisch an die wand
gehängt. als vorlage diente mir eine fotografie aus dem jahre neunzehnsechzehn,
die ein nicht bekannter fotograf, eine nicht bekannte fotografin, anno
dazumals in moskau gemacht hat. das bild hinterlässt einen melancholischen
eindruck.
ihre ernsthaftigkeit treibt mir tränen in die augen.
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