Ilse Kilic:
Vom Umgang mit den Personen
Eine Schöpfungsgeschichte

2005, 120 Seiten, Euro 13,90

3-85415-376-7
erschienen im und zu bestellen bei
Ritter Verlag
Hagenstraße 3
A - 9020 Klagenfurt

 

(leseprobe)



Viele Schriftsteller und Schriftstellerinnen halten es für wichtig, einer Hauptperson früher oder später Zugang zur Bildung zu gewähren. Um bei solchem Unterfangen das Textwerk nicht allzusehr zu belasten, wird bisweilen hiefür der Nürnberger Trichter* verwendet.

*In der Stadtbibliothek Nürnberg befindet sich eine Darstellung dieses Trichters. Auf einem Kupferstich aus dem 17. Jahrhundert sind drei Männer zu sehen, die einem auf dem Boden Liegenden die gesamte Weisheit mit einem großen Trichter einflößen. Das Bild trägt die Überschrift: „Seht liebe Leut hie steht der Mann, so alle Kunst eingießen kann.“ Eduard Duller erzählt in den 1834 erschienenen „Geschichten und Märchen für jung und alt“, dass der Schneidersohn Hans Wurst von Tripsdrill nach Nürnberg wanderte, um dort den überall so begehrten Wundertrichter zu suchen.

 

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Gerda konnte der Vorstellung, zur Bestimmung ihres spezifischen Gewichtes unter Wasser zu tauchen, nichts abgewinnen, zumal sie den wissenschaftlichen Tätigkeiten von Edgar und dessen Kompagnon V. wenig Vertrauen entgegenbrachte. Das Wesen im Essigkrug als Ergebnis wissenschaftlicher Experimentiertätigkeit weckte kein Vertrauen zu den beiden Experimentatoren. Wenn Gerda den Essigkrug polierte, was zu ihren Aufgaben gehörte, verspürte sie ein heftiges Schwindelgefühl. Wenn Gerda dem Wesen die sorgfältig zubereitete Nahrung einflößte, fühlte sie ebenfalls Schwindel, indem sie dessen Kopf hin und her schwanken sah. Den Schöpfern eines solchen Wesens wollte sie nicht als Forschungsobjekt dienen, auch wenn es nur darum ging, ihr spezifisches Gewicht zu bestimmen, was ihr – vielleicht – für den Verbleib im vorliegenden Text unschätzbare Vorteile bringen könnte. Gerdas Maxime: Je weniger Daten eine für dein Schicksal verantwortliche Person zur Verfügung hat, umso größer ist deine Chance, auch als Hauptperson in einem Textwerk das eigene Schicksal gestaltend zu konstruieren.
Gelegentlich tarnt sich das spezifische Gewicht einer Person auch hinter Zurückhaltung, wie Sperling* in seiner Abhandlung über spezifische Gewichte schreibt: „Das Gewicht kann darin liegen, dass eine Person in Gesellschaft das große Wort führt, oder darin, dass sie gar nicht spricht oder der Gesellschaft ausweicht. Dieses Ausweichen kann wieder verschiedene Formen annehmen.“

*Alfred Sperling, Das spezifische Gewicht als unbekannte Größe bei der Betrachtung von Personen in fiktionalen Textwerken des 20. Jahrhunderts. Edition „Fussnoten zur Weltgeschichte“, o.J., vergriffen.