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(leseprobe)
RIA M. GLOMP:
Die Frage Warum? als Auslöser
und Faktor des Kummers
Frage eines Kindes:
„Warum tut das Leben weh?“
Antwort der erwachsenen Begleitperson:
„Das kommt
vom Warum-Fragen“ (mitgehörtes Gespräch in einer
Straßenbahn).
Die Antwort der erwachsenen Begleitperson ist
inhaltlich zwar nicht vollkommen falsch, wird
jedoch der Frage nicht gerecht. Die Frage allerdings
ist irreführend. Das Leben kann zwar weh
tun, damit ist aber nicht (nur) gemeint, dass
das Leben selbst Schmerzen verursacht, sondern
dass es - in einem fast allumfassenden Sinne -
Ursache aller Schmerzen ist, gewissermaßen deren
Basis, da es Schmerz ohne Leben genauso wenig
gibt wie Leben ohne Schmerz. Die Frage Warum?
ist insofern mitbeteiligt an Kummer und Schmerz,
als sie ein anderes Leben in den Bereich des
Denkbaren rückt, nämlich ein Leben ohne Kummer
und Schmerz. Kopf und Fuß, Hand und Herz können
bekümmern, die Frage Warum? aber macht insbesonders durch die Vorstellung
eines schmerzlosen Zustandes Sinn. Dies meint auch die Antwort der erwachsenen
Begleitperson. Doch verschweigt die Antwort, dass die Frage Warum? auch
ermöglicht, Schmerz und Kummer offensiv zu begegnen und an deren
Verringerung zu arbeiten.
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Die Schriftstellerin Ilse Kilic wusste nicht mehr, was sie glauben sollte.
Waren nicht die Romanfiguren Solo und Mimi La Whipp Bewohnerinnen einer
von ihr ersonnenen fiktiven Realität? War sie etwa nicht die einzige,
die sich zwischen real existierender und fiktiver Wirklichkeit nach eigenem
Dafürhalten hin und her bewegen konnte? Bisher war sie davon überzeugt
gewesen.
Genau genommen war sie auch der Meinung, dass diese Diskussion gar nicht
in der real existierenden, sondern in einer fiktiven Wirklichkeit stattfand.
Allerdings war ihr schon des öfteren aufgefallen, dass Gegenstände,
die in ihren Texten vorkamen, sich tatsächlich auch auf ihrem Schreibtisch
oder in ihrer unmittelbaren Umgebung blicken ließen. Meist waren
dies Gegenstände des täglichen Gebrauchs, keine Einzelstücke,
sodass sich hieraus nicht viel ableiten ließ. So zum Beispiel hatte
sie über eine rote Zipfelhaube geschrieben, am nächsten Tag
dann eine solche in ihrem Postkasten gefunden, handgenäht von der
Kollegin Sonja Tollinger. Oder sie schrieb über ein Bild von einem
Wildschwein, und kurz darauf zeichnete der Herzensgefährte Fritz
Widhalm ein solches Bild, natürlich ohne dass er ihren Text kannte.
Oder sie beschrieb ein besetztes Haus, und in den nächsten Tagen
wurde ein Haus besetzt. Einmal hatte sie über einen jungen Hund geschrieben
und war kurz darauf in der Wohnung von Freundin Gerda überraschenderweise
einem
jungen Hund begegnet. Und als sie über den fallenden Schnee schrieb,
begann es in der gleichen Nacht zu schneien.
Auch umgekehrt war es erlebbar: Kaum hatte die Kollegin Helga Pregesbauer
ein Kopftuch mit einem rosaroten Schwein genäht und dieses Ilse Kilic
geschenkt, tauchte dieses Kopftuch in einem Buch von Ilse Kilic auf.
Was aber Erinnerungen betraf, so stellte sich die Frage, ob es denn möglich
war, dass diese frei durch die verschiedenen Wirklichkeiten flottierten
und in Zusammenhängen auftauchten, in denen es das Erinnerte gar
nicht wirklich gegeben hatte?
Hier kam der Autorin Ilse Kilic das Wort „Erinnerungsdiebstahl“
in den Sinn.
Es gab nämlich immer wieder Gerüchte, dass einzelnen Personen
eine Erinnerung abhanden gekommen, dieselbe dann aber bei einer anderen
Person wieder aufgetaucht wäre.
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