Fritzchens Alterswerk

Seite 13

(...)
ich werde demnächst 64 jahre und bin im großen und ganzen gesund, heute zumindest. ich nehme keine medikamente, kein einziges. jeden zweiten tag (be)treibe ich isk.
intermittierender selbstkatheterismus.
ich entleere meine harnblase durch die einführung eines einmalkatheters, da sie sich beim normalen pinkeln nicht mehr zur gänze entleert. beim einführen des katheters in die blase öffnet man mit sanften druck zuerst den äußeren und dann den inneren schließmuskel, das fühlt sich gut an. es ist durchaus mit dem gefühl vergleichbar, wie wenn ein penis oder dildo in den anus eindringt.
es fühlt sich gut an.
auch beim herausziehen.
es fühlt sich gut an.
hast du schon abgelassen, fragt ilse.

(…)
gestern, 25.02.2020, waren wir bei einer veranstaltung in der alten schmiede: gesellschaftsräume der literatur. dabei handelt es sich um eine veranstaltungsreihe, die von kurt neumann konzipiert wird. gestern lasen und sprachen irene diwiak, vladimir vertlib und renate welsh.
closesie versuchen im gespräch und mit lesungsbeispielen der frage auf den grund zu
closegehen, inwieweit literatur helfen kann, der überhandnehmenden sprachlosigkeit
closeunserer gesellschaft und den aberwitzigen abgründen der polarisierung
closeentgegenzuwirken
.
ilse und ich gingen wegen renate welsh in die alte schmiede, die wir beide sehr schätzen und die mit ihrer langsamen und behutsamen art und weise zu sprechen, ihre gedanken in sprache zu verwandeln, das gespräch zu einem gelungenen machte. ich weiß, gedanken sind irgendwie bereits sprache, obwohl es angeblich auch ein denken in bildern geben soll, eventuell auch ein denken in gerüchen etcetera.
etcetera meint hier einfach etcetera, sonst nichts.
etcetera meint meist einfach etcetera, sonst nichts.
zumindest wenn ich es sage oder schreibe.
etcetera ist ein schönes wort.
etcetera ist ein schönes bild.
etcetera ist ein schöner geruch.
etcetera ist ein schönes etcetera.
closecystofix
closemarmorguglhupf
closekremšnita
closehumoralpathologie
closestuhlgang
closeetcetera
sechs schöne worte.
wieviel schöne worte verträgt ein text?
renate welsh trumpfte in ihrem sprechen nie auf, nichts klang gewollt schlau oder so, als würde bildung aufgeführt.
bei vladimir vertlib wirkte das sprechen merkwürdig.
nein, vladimir vertlieb sagte nichts was mir besonders fragwürdig schien, es war eher ein würdiges sprechen. ein sprechen, das kein gespräch zulässt.
egal, vielleicht war er einfach zu gut vorbereitet, aus angst nicht schlau genug, nicht würdig genug zu sein.
egal, vielleicht war es nervosität, die ihn zum bilderbuchintellektuellen mutieren ließ.
vladimir vertlieb präsentierte sich als wichtiger schriftsteller, der er, wie er betonte, schon immer sein wollte.
in der philosophie gibt es auch die idee, das denken sei eine art stummes sprechen, in einer inneren, allen menschen gemeinsamen sprache.
wichtige schriftsteller*innen können wir wahrscheinlich alle schon immer gewesen sein wollen. oder doch nicht.
alle philosophie ist sprachkritik, schrieb ludwig wittgenstein, aber von welcher sprache spricht er, von der inneren, allen menschen gemeinsamen sprache?
ich bin im grunde sehr für bildung, ich weiß nur nicht, wo sie gerade stattfindet.
von irene diwiak blieb mir nur ihr lachen, das mehr ein kichern war, in erinnerung. kichern ist okay für mich, ich kichere auch oft und nicht immer an der richtigen stelle.
gestern.
heute.
morgen.
ich vertraue auf die literatur von renate welsh.
nicht nur. ich vertraue auch auf die literatur von ilse kilic.
oh. ich habe schon auf einige literaturen vertraut.
ich besuchte vier jahre die volksschule in purgstall.
ich besuchte vier jahre die hauptschule in purgstall.
danach besuchte ich ein jahr den polytechnischen lehrgang, ebenfalls in purgstall.
nach der so genannten pflichtschule absolvierte ich eine ausbildung, auch lehre genannt, zum elektroinstallateur, die insgesamt dreieinhalb jahre in anspruch nahm.
intellektueller sagte zu mir keine*r.
wahrscheinlich kam ich auch deshalb nie auf die idee ein wichtiger schriftsteller sein zu wollen, sein zu können.
ich sagte mit trotzigem stolz proletarier zu mir.
ich nehme das wort proletarier nicht in meine liste schöner worte auf, weil es das wort arier enthält.
so ist es.
es ist so.
bald werde ich mich pensionist nennen.
so ist es.
es ist so.
mit sechzehn jahren verliebte ich mich in david bowie.
nicht nur. ich verliebte mich auch in marc bolan.
und in das leben mit silvia, elisabeth und martin.

(…)
die erste single von david bowie, die ich mein eigen nannte, war "starman / suffragette city".
die erste single von marc bolan und seiner band t.rex war "children of the revolution / jitterbug love".
close
intellektueller sagte zu mir keine*r.
ich sagte mit trotzigem stolz glamdiva zu mir.

(…)
ich war eine wunderschöne glamdiva.
mit hochtoupierten haaren, dicken lidschatten, rouge auf den wangen, mit lippenstift und lackierten fingernägeln. ich trug die ausgedienten kniehohen stiefel meiner mutter, die ich mit silberner ofenrohrfarbe gestrichen hatte. später kaufte ich mir von meiner spärlichen lehrlingsentschädigung schuhe mit zwölf zentimeter hohen plateausohlen. ich war kein sehr beliebter jugendlicher in der marktgemeinde purgstall. nein, meine beliebtheit hielt sich in grenzen. manchmal bekam ich ärger, prügel sogar, da ich mit meinen plateausohlen nicht davonlaufen konnte. doch ich war unbesiegbar, ich war eine glamdiva.

habe ich als kind musik gehört? eine gute frage. ich habe nicht den blassesten schimmer. obwohl ich ohne elektrischen strom heranwuchs, gab es ein radio in der küche. batteriebetrieben, nehme ich wohl richtig an. der elektrische strom kam zu mir, als ich im alter von acht jahren, mit eltern und geschwistern, von gaisberg nach purgstall übersiedelte. genaugenommen kam ich zum elektrischen strom. ich bewunderte den elektrischen strom. sieben jahre später wurde ich für kurze zeit elektroinstallateur. meine freundschaft mit dem elektrischen strom war danach beendet. doch ich blieb dem elektrischen strom durch meine damals erwachende musikleidenschaft immer auf das engste verbunden. musik? meine mutter hörte musik aus dem radio in der küche. schlagermusik. die meisten schlager wurden von damals populären filmstars interpretiert. das war damals einfach so. die bilder von den sängerinnen und sängern wurden mir erst einige jahre später vom fernsehen nachgereicht. ohne diese bilder wäre die schlagermusik meiner mutter für mich für immer verloren gegangen. das radio spielte die musik, doch ich nahm sie kaum war. ich benötigte die bilder von heinz rühmann, hans albers, peter alexander, hans moser, theo lingen und vielen anderen. frauen? ja, doch. trude herr, conny froboess, rita pavone, zarah leander und leila negra. die bilder machten die schlagermusik meiner mutter für mich hörbar und gleichzeitig sagten sie und das was ich nun zu ohren bekam, nein nein! nein nein!, sagte ich, das ist nicht die musik, die ich für mein leben gern hören möchte, nein nein!, das sind nicht die bilder, die ich für mein leben gern sehen möchte. einiges davon blieb aber trotzdem an mir kleben. als bereicherung? ich denke schon, irgendwie wohl schon. trude herr stand mir auf seltsame art nahe. wenn der wecker morgens rasselt / und der tag nimmt seinen lauf / ist die stimmung mir vermasselt / denn ich steh so ungern auf. / doch wenn tausend lichter glühen / bin ich jede nacht ganz groß / und wenn dann noch musik erklingt / dann geht es los, sang trude herr auf ihrer 1960 erschienenen single "morgens bin ich immer müde". ja, trude herr ahnte etwas von meinem leben. den text hat zwar aldo pinelli geschrieben, aber es war trude herr, die dieses lied für immer an mir festklebte, es war trude herr, die eine ahnung hatte. 2012 hat die berliner gruppe laing diesen schlager in pop verwandelt. electro-soul-pop. ich habe mir diese version mit neugier und freude angehört, doch es wird auch weiterhin trude herr sein, die an mir festklebt. von leila negra klebte sich der schlager "die süßesten früchte fressen nur die großen tiere" an mein leben. ein 1952 aufgenommenes duett mit peter alexander. leila negra war die erste person of color in meinem leben. und billy mo der erste person of color. billy mo sang 1962 den schlager "ich kauf mir lieber einen tirolerhut": dann kam ich zum militär, kinder war das leben schwer, sagte zu mir corporal, wenn du erst gefreiter bist, wirst du auch general. ich kauf mir lieber einen tirolerhut, der steht mir so gut, der steht mir so gut. dann mach ich sonntagabend blasmusik, immer nur dasselbe stück. waren diese schlager meine wegbereiterinnen zum pop? ich würde sagen, nicht wirklich, aber, irgendwie doch. einen schlager will ich hier trotzdem noch kurz erwähnen und zwar "der theodor im fußballtor" von theo lingen. natürlich spielte ich als kind mit leidenschaft fußball. einige jahre auch in der schülermann­schaft des sv purgstall. nein, ich war nicht der tormann, ich spielte meist in der position des rechten außendeckers. ob ich gut war? keine ahnung. ich würde sagen, ich war unerschütterlich. theo lingen war ebenfalls unerschütterlich. er schaffte es in den dümmsten filmkomödien klug zu schauspielern. später sang theo lingen noch: ich wollt, ich wär ein huhn / ich hätt nicht viel zu tun / ich legte vormittags ein ei / und abends wär ich frei. auch dieser schlager war mir durchaus sympathisch. schluss mit schlager! volksmusik, die gab es natürlich auch reichlich. ich wurde in gaisberg geboren und verbrachte dort die ersten acht jahre meines lebens. gaisberg war ein winziger ort mit vorwiegend bäuerlicher bevölkerung. nein, wir waren keine bauern. mein vater war hilfsarbeiter und sozialist. zwischen sozialismus und kommunismus zog mein vater keine scharfe trennlinie, ich würde sogar sagen, er meinte das eine wenn er das andere sagte. ich verstand den sozialismus meines vaters als kind sehr gut. ich verstehe ihn noch immer sehr gut, obwohl mein vater bereits einige jahre tot ist und ich mich meist als anarchodadapunk festschreibe. der sozialismus ist aber durchaus ein wichtiger teil dieser festschreibung. zurück zur volksmusik. meine mutter verdiente ein wenig geld zum kärglichen einkommen meines vaters dazu, indem sie bei den bauern als ernte- oder sonstige helferin einsprang. wir kinder - ich habe fünf geschwister - verbrachten viele unserer tage an der seite unserer mutter bei den bauern. ja, und viele bauern, und auch bäuerinnen sowie bauernkinder, spielten ein instrument. oder sangen. oder taten beides. es gab ziemlich viel volksmusik nach getaner arbeit. eine alte bäuerin mit zither und brüchiger stimme begeisterte mich als kleiner fritz sehr. auch den klang des hackbretts liebte ich. die auch vorhandene blasmusik begeisterte mich weniger, ausgenommen der klang der tuba, der ließ meinen bauch schon als kind so schön vibrieren. an volksmusik aus dem radio kann ich mich nicht erinnern. dann gab es da noch eine andere musik, die musik meines vaters. arbeiterlieder aus der sozialistischen arbeiterbewegung. zur gitarre und ziehharmonika wurde drum links, zwei, drei! / drum links, zwei, drei! / wo dein platz, genosse, ist! / reih dich ein in die arbeitereinheitsfront / weil du auch ein arbeiter bist und andere arbeiterlieder intoniert. ich war als kind stolz darauf arbeiter zu sein. ich konnte als kind einige arbeitslieder auswendig wiedergeben. kirchenlieder konnte ich kein einziges. ich war als kind stolz darauf, sonntags nicht in die kirche gehen zu müssen. die musik, die mein leben prägte, wurde aber pop, ist pop. 1972, ich war sechzehn jahre alt, kaufte ich stolz meine erste single: "silvia's mother" von doctor hook and the medicine show. auf der rückseite befand sich der song "makin' it natural". eigentlich liebte ich zu dieser zeit vorwiegend glam: david bowie, marc bolan, roxy music. natürlich liebte ich auch the sweet, slade, und ein wenig sogar gary glitter. "the ballroom blitz" von the sweet gehört noch immer zu meinen lieblingspopsongs. aber schaffen wir ordnung in meinen gedanken. ich arbeite an einer liste, der ich den dateinamen thestoryofpop.doc gegeben habe. nein, ich will in diesem work in progress nicht die wahre, wirkliche oder sonstwie geschichte des pop schreiben. die liste sowie dieses work in progress ist meinen launen und meinem leben ausgeliefert, sprunghaft und hysterisch. doch bin ich durchaus der meinung, dass es nicht nur meine launen und mein leben sind, die hier aufgeschrieben werden. die liste nimmt ihren anfang.

das ist der so genannte vorspann meiner popliste auf unserer homepage, die den schönen titel i wanna be a cowboys sweetheart trägt und langsam vor sich hin wächst. sie beginnt mit dem song "massa's in de cold, cold ground" von miss agnes preston, der zirka 1914 auf schellackplatte erschienen ist. aktuell, 03.03.2020, ist die liste beim song "the order form" von der band essential logic angelangt.
und sie wächst.
wächst und wächst.
ja, und dånn wår i ka liliputaner mehr.
intellektueller sagte keine*r zu mir.
arbeiterinnen sagte in meiner kindheit niemand, nicht mal mein vater, der ein sehr kluger mensch war.
es sagte auch niemand glamdiva zu mir, nur schwuchtel, was mich aber durchaus mit stolz erfüllte.
ich war eine wunderschöne schwuchtel.

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