Kapitel 75: Worte. Worte. Und Worte.


Ich werde ab jetzt das Datum dazuschreiben, wenn ich einen Beitrag für meinen Gedichte-Blog schreibe. Warum? Es ist vielleicht nicht uninteressant, für mich selbst, aber auch für Leserinnen und Leser. Also: heute ist der 25. Oktober 2020.

Ich beginne mit einem Gedicht von Franny Choi. Es handelt von Worten und Wörtern, ja, von der Sprache selbst, die uns immer von neuem überraschen und erschrecken kann. Die Sprache kann uns helfen die Welt zu verstehen, manchmal aber steht sie uns nicht zur Seite, wir knien und schwitzen, wir benützen die Worte, versuchen zu reparieren, wir halten an, wir halten ein, die Worte sind löchrig und porös, aber sie sind, was wir haben:

We Used Our Words We Used What Words We Had

we used our words we used what words we had
to weld, what words we had we wielded, kneeled,
we knelt. & wept we wrung the wet the sweat
we wracked our lips we rang for words to ward
off sleep to warn to want ourselves. to want
the earth we mouthed it wound our vowels until
it fit, in fits the earth we mounted roused
& rocked we harped we yawned & tried to yawp
& tried to fix, affixed, we facted, felt.
we fattened fanfared anthemed hammered, felt
the words’ worth stagnate, snap in half in heat
the wane the melt what words we’d hoarded halved
& holey, porous. meanwhile tide still tide.
& we: still washed for sounds to mark. & marked.

Franny Choi (born February 11, 1989) is a queer Korean-American writer and poet. Das sagt die Wikipedia zu Franny Choi. Ihr Gedicht habe ich zufällig entdeckt, ebenso zufällig ein anderes, das ich empfehle, sich im Netz anzuhören. Das Gedicht heißt: "Whiteness Walks into a Bar". Es ist ein Kommentar zum Leben unter den Bedingungen des allgegenwärtigen, alltäglichen Rassismus.
Der Link ist: https://www.youtube.com/watch?v=3hA1_z_rqAg
Auch das von mir anfangs zitierte Gedicht kann man nachhören. Vielleicht ist es wichtig, die Stimme der Autorin zu hören, gerade weil das Gedicht hier nicht übersetzt ist. Es ist leichter zu verstehen, wenn man es hört.

Als ich Franny Choi entdeckte, war ich eigentlich dabei, über die Dichterin Don Mee Choi zu lesen. Auch sie ist eine koreanische Dichterin. Sie lebt in Seattle. Ihr Gedicht, das ich jetzt zitiere, passt insofern gut zum Gedicht über die "Worte, die wir haben", weil es sich mit der Sprache an sich befasst. Das Gedicht heißt: "I refuse to translate".

Übersetzung ist immer ein heikles Unterfangen. Die Übertragung eines fremden Textes in die (meistens) eigene Sprache bedeutet immer eine Nachdichtung, ein Versuch, in einer anderen Sprache Worte und Wörter zu finden, die dem Original nahekommen. Ich kann nicht viele Sprachen gut genug, um literarische Texte zu lesen. Falsch: Ich kann kaum eine Sprache gut genug, um darin überhaupt zu lesen. Übersetzung ist für mich also ein Stück Notwendigkeit.
Worte finden bedeutet auch, die Sprache zu kritisieren, ihr Regelwerk zum Thema zu machen, die innewohnenden Barrieren, Ungerechtigkeiten und Unmöglichkeiten. Jede Sprache, jeder Text tut das auf seine eigene Art und Weise.
Nun aber zur Dichterin Don Mee Choi und zu ihrem Gedicht "I refuse to translate". Es stammt aus dem Buch "Hardly War" (Wave Books, 2016). Ich verweise an dieser Stelle auch auf die Seite des Cabaret Wittgenstein, einen Blog, der den schönen Untertitel "Laboratory for Anti-Dystopian Writing" trägt.

I Refuse to translate

Ich kann dieses Gedicht mehrheitlich nicht "verstehen", wenn verstehen heißt, den Inhalt nachzuerzählen. Die koreanischen Zeichen lassen es wie ein Stück visueller Poesie aussehen, für mich. Und ich bin damit vielleicht nicht allein. Ich kann versuchen, mir einen Reim darauf zu machen, auch deshalb, weil ich es nicht lesen kann. Ich kann Überlegungen anstellen oder über die koreanische Sprache nachlesen, darüber, wie sie geschrieben wird, darüber, dass sie seit dem 15 Jahrhundert ein nur leicht verändertes Alphabet benutzt, darüber, dass sie eine agglutinierende Sprache ist, wie etwa das Ungarische, mit dem sie aber ansonsten wohl nicht viel gemeinsam hat. Ich kann mir etwas Koreanisches im Internet anhören, um den Klang der koreanischen Sprache zu hören, ich könnte sogar einen Online-Kurs machen, um koreanisch zu lernen.
Ja das könnte ich. Ich könnte, aber ich will nicht, auch wenn es mir jetzt, in diesem Augenblick, spannend und reizvoll erscheint. Ich könnte sehr viel lernen. Ich könnte nicht alles lernen.
Ich könnte, ja ich muss, also auch zur Kenntnis nehmen, dass es in meinem Verstehen Lücken gibt, nein, ich meine eigentlich, dass meine Kenntnisse eine einzige Lücke sind, mit kleinen Inseln von Wissen und Ahnungen.
Und damit bin ich beim abschließenden Zitat von Rebecca Solnit. Es stammt aus ihrem wunderbaren Buch: "Die Kunst, sich zu verlieren", das 2020 erschienen ist:

Das Unbekannte zur Kenntnis zu nehmen ist Teil des Wissens.

(Sie bezieht sich dabei auf alte Landkarten, auf denen es so etwas wie "Terra Incognita" gab).