Kapitel 76: Verstehen und Nichtverstehen


Ich beginne mit einem Gedicht von aus Else Lasker-Schüler. Es stammt aus dem neu erschienenen Buch: "Frauen | Lyrik. Gedichte in deutscher Sprache" (Reclam 2020).
Else Lasker-Schüler wurde 1869 in Elberfeld geboren und starb 1945 in Jerusalem.

Elbanaff

Min salihihi wali kinahu
Rahi hatiman
fi is bahi lahu fassun -
Min hagas assama anadir,
Wakan liachad abtal,
Latina almu lijádina binassre.
Wa min tab ihi
Anahu jatelahu
Wanu bilahum.
Assama ja saruh
fi es supi bila uni
El fidda alba hire
Wa wisuri - elbanaff!

Gedichte wie dieses entziehen sich den gewohnten Lesarten. Sie bergen indessen die Versuchung der Interpretation. Sie verführen nicht nur mit - möglicherweise - versteckten Anspielungen auf Bedeutungen, Bedeutungsfragmenten vielleicht, sondern auch mit Klang.
Und, heutigentags steckt in ihnen auch die Verführung, ein Übersetzungsprogramm zu Rate zu ziehen, das vielleicht Bekanntes darin aufspürt. Irgendwie eine möglicherweise respektlose Zugangsweise, aber ich versuchs mit Google translate. Doch ach, es lässt mich im Stich. Zu "elbanaff" fällt ihm nur "Banff" ein. Mit "Banff" kann ich eigentlich noch weniger anfangen als mit "elbanaff", in welchem das Translationsprogramm immerhin Arabisch erkennt. Aber ich gebe nach diesem einen Versuch nicht auf: Die erste Zeile, laut Google in der mir bislang unbekannten Sprache Cebuano verfasst, ist nicht übersetzbar. Cebuano? Ich lese nach: 18 Millionen Menschen auf den Philippinen sprechen Cebuano. Es ist also eine veritable Bildungslücke, dass ich noch nie von dieser Sprache gehört habe. Es ist leicht, Bildungslücken zu entdecken, zumal, wenn man dabei das Internet zu Hilfe nimmt.
Wie auch immer: Einfaches Übersetzen hat hier wenig Chance, auch dann nicht, als ich andere Translationsprogramme bemühe. Und es ist ja auch wohl kaum in der Absicht der Autorin gelegen. Fast bin ich also überrascht, als die Zeile "Wakan liachad abtal" zu einem "He was to pull out heroes" wird. Und was nun? Nein ich vertraue lieber auf meinen Eindruck, nichts mit Helden und herausziehen, eher eine Beschwörung von geheimnisvollen Kräften, gedichtet in mystischem Asiatisch, wie Else Lasker-Schüler schrieb. Hier sollte auch der Hinweis nicht fehlen, dass Else Lasker-Schüler eine Art Alter Ego ihr eigen nannte, nämlich jenes des Prinzen Yussuf von Theben. Sie schrieb: "In Gedanken im Himmel, betreue ich die Stadt Theben und bin ihr Prinz Jussuf." Allerdings gibt es in der Tat eine Fassung dieses Gedichtes in deutscher Sprache, von Else Lasker-Schüler als erste Version geschrieben. Genaueres dazu kann man auf der Website von Reinhard Döhl nachlesen, wo er sich mit akustischer Poesie befasst, es gibt aber auch eine Publikation von Nina Berman zum Thema "Orientalismus, Kolonialismus und Moderne. Zum Bild des Orients in der deutschsprachigen Kultur des 19. Jahrhunderts." Ja, so kommt man von einem Gedanken zum anderen: In diesem Buch ist dem Schriftsteller Karl May das zweite Kapitel gewidmet. Ich war in meinen Jugendjahren begeisterte Karl-May-Leserin. Später auch kritische Karl-May-Rezipientin, natürlich.
Ich wende mich nun wieder dem Eingangsgedicht zu und fantasiere über Elben, diese mystischen Wesen, die vielleicht in Elberfeld leben (wo Else Lasker-Schüler geboren ist). Oder leben sie in einem Nadir, einem Tiefpunkt? Leben sie in Liachad, falls es eine Stadt dieses Namens gibt? Oder ist Liachad ein Berg? Ein Fluss? Ganz sicher wird jeder Mensch in diesem Gedicht andere Ankerpunkte finden, das macht vielleicht auch das besondere einer erfundenen Sprache aus, oder, sagen wir so, einer unbekannten Sprache. Der Vollständigkeit halber hier die deutschsprachige Fassung des Gedichtes. Ich staune ein bisschen. Ein bisschen staune ich.

Weltflucht

Ich will ins Grenzenlose
Zu mir zurück,
Schon blüht die Herbstzeitlose
Meiner Seele,
Vielleicht - ist's schon zu spät zurück
O, ich sterbe unter Euch!
Da ihr mich erstickt mit Euch.
Fäden möchte ich um mich ziehn -
Wirrwarr endend!
Beirrend,
Euch verwirrend,
Um zu entfliehn
Meinwärts!

An den Abschluss dieses Kapitel möchte ich ein Zitat aus dem Buch "Das Pferd" von Ann Cotten setzen, ein Zitat, das für mich in einem inneren Zusammenhang mit dem sprachlichen Bemühen steht, falsch, mit jedem Bemühen, jedem Nichtverstehen, mit jedem Missverstehen, und, last not least, mit jedem Bemühen um (s)ich, ums Ich.
Ann Cotten schreibt:
"Dieses schmale, brennende Ich, sollte es alleine diese
"riesigen Schatten für alle werfen, die niemand begreift?"