Kapitel 77: Vom Verlorengehen


Ich beginne mit einem Zitat von Grandmaster Flash & the Furious Five.

It's like a jungle sometimes, it makes me wonder
How I keep from going under
It's like a jungle sometimes, it makes me wonder
How I keep from going under

(Grandmaster Flash & the Furious Five, 1982)

Ist die Welt ein Urwald, ein Dschungel? Sicher nicht im Sinn eines sozusagen botanisch definierten Urwaldes, der als vom Menschen gar nicht oder nur sehr wenig beeinflusster Wald mit ursprünglicher Artenzusammensetzung verstanden wird. In einer übertragenen Bedeutung, die die Unübersichtlichkeit meint, die Gefährlichkeit und Schönheit und vielleicht auch die Tatsache, dass der Dschungel sich selbst genügt, also in dieser Hinsicht lässt sich die Welt durchaus als Dschungel betrachten. Wenn es denn so ist und wenn das "sich selbst genügen" überhaupt beobachtbar ist.
Wenn von der Welt als Dschungel die Rede ist, bezieht sich das nicht nur auf die ganze Welt als seltsamer "Lost Place", sondern auch auf die Tatsache des Irrens. Und Irren ist sowohl "Sich verirren" als auch das "Sich einem Irrtum hingeben". Und das ist wohl etwas, das niemandem fremd ist. Oder? In diesem Sinne kann man auch die Übertragung des Zitates ins Deutsche lesen. Sie stammt von Ann Cotten und findet sich (ebenso wie der englische Text) in ihrem Buch "Fast dumm. Essays von on the Road".

Es ist ein Urwald, ich frage
mich manchmal nur, wie ich
hier drinnen nicht verloren geh


"Verloren gehen" bedeutet, dass die Welt eine*n nicht mehr wahrnimmt, dass man für die "Welt" nicht mehr existiert, verloren gegangen ist. Wer hat sich noch nicht über die eigene Fähigkeit, sich immer wieder einigermaßen zurechtzufinden gewundert?
Eine andere Art, die Verlorenheit zum Thema zu machen beziehungsweise eine ihrer Ursachen zu benennen habe ich bei Charles Baudelaire gefunden. Ursache der Verlorenheit ist in seinem Gedicht die Zeit. Einziges Gegenmittel: der Rausch. Die Zeit kann man nicht wirklich abschaffen wie zum Beispiel den Kapitalismus (zumindest theoretisch). Die Zeit nimmt auch keine Rücksicht auf Vorlieben, Ängste und subjektive Wahrnehmung: Sie vergeht einfach. Und ihr Vergehen bedeutet: Alles vergeht. Hier nun das Gedicht von Charles Baudelaire. Es stammt aus dem Band: "Gedichte in Prosa".

Berauschet Euch

Man muß immer trunken sein. Das ist alles: die einzige Lösung. Um nicht das furchtbare Joch der Zeit zu fühlen, das euere Schultern zerbricht und euch zur Erde beugt, müsset ihr euch berauschen, zügellos.
Doch womit? Mit Wein, mit Poesie oder mit Tugend, womit ihr wollt. Aber berauschet euch.
Und wenn ihr einmal auf den Stufen eines Palastes, auf dem grünen Grase eines Grabens, in der traurigen Einsamkeit eures Gemaches erwachet, der Rausch schon licht geworden oder verflogen ist, so fraget den Wind, die Woge, den Stern, den Vogel, die Uhr, alles was flieht, alles was seufzt, alles was vorüberrollt, alles was singt, alles was spricht, fraget sie: »Welche Zeit ist es?« und der Wind, die Woge, der Stern, der Vogel, die Uhr werden euch antworten: »Es ist Zeit, sich zu berauschen! Um nicht die gequälten Sklaven der Zeit zu sein, berauschet euch; berauschet euch ohne Ende; mit Wein, mit Poesie oder mit Tugend, womit ihr wollt.«


Die Zeit ist eine Last. Der Rausch kann sie - gelegentlich - vergolden, dem Denken Flügel verleihen und die Stimme zum Singen, Kreischen, Jubilieren bringen. Doch es muss nicht immer Wein sein, für mich sowieso nicht, da ich, jedenfalls seit viele Jahren, Bier vorziehe. Aber es muss auch nicht Bier sein. Vieles kann berauschen, sage ich, vielleicht sogar die Tugend. Kommt darauf an! Berauschen kann jedenfalls die Vorfreude auf fröhliche Begegnungen in von milder Abendsonne beschienenen Gastgärten. Corona wird sich verabschiedet haben, das Gänsehäufel, Wiens größtes Freibad mit FKK Strand, wird seine Pforten öffnen, wir werden nackig am Wasser liegen und den Enten zuschauen, ja solche Gedanken können berauschen. Und jetzt mache ich mir ein Bier auf. Einstweilen ohne Gastgarten.