Kapitel 83: Zum Kuckuck!


Ich beginne mit einem Gedicht, das ich geschrieben haben könnte. Aber ich habe es nicht geschrieben. Und, nein, ich gehe nicht immer bei Rot über die Straße. Mein Hund, ein Langhaardackel, wurde nicht alt, es kann sich also weder um meine Stadt noch um mein Gedicht handeln! Das Gedicht, das ich nicht geschrieben habe, stammt von Elke Engelhard und ist in ihrem Gedichtband "Sansibar oder andere gebrochene Versprechen" zu finden, der im Elif Verlag im Jahr 2020 erschienen ist. Schwer zu sagen, wo sich die Stadt befindet, in der das Gedicht sich befindet und in der das schreibende "Ich" lebt. Rund um das Gedicht gibt es die Schwerkraft, das versteht sich von selbst, die Wälder wüssten sonst nicht, wo ihnen der Himmel steht.
Warum ich das Gedicht geschrieben haben könnte, wissen nur die, die mein Gesicht nackt gesehen haben. Hier nun das Gedicht von Elke Engelhardt.

In der Stadt in der ich lebe

In der Stadt in der ich lebe
werden die Hunde sehr alt.
Die Dichter schreiben mit Bleistift
und glauben an die Heilkraft der Wälder.
Selten liest jemand mehr
als die Schlagzeilen
in den Gesichtern der Vorübergehenden.

Einer gibt dir einen Namen
und ein anderer ruft ihn
als wenn er dich kennt.
Ich bin die Frau mit der Hasenscharte
die immer bei Rot über die Ampel geht.
Ich hänge am Leben
das hängt an einem rostigen Nagel.

Vor einigen Jahren habe ich ein Kuckucksgedicht geschrieben.
Es ging so:

Kuckuck Kuckuck
sag mir doch,
wieviel Jahre leb' ich noch

Das Gedicht gewann eine gewisse Eindringlichkeit durch Wiederholung, will sagen, bei Lesungen las ich es gut und gerne zehn Mal hintereinander vor. Manchmal fiel ich beim Vortrag in einen monotonen Singsang. Nach einer Weile wartete das Publikum auf eine Pointe, aber es gab keine. Vielleicht schien es mir auch nur so, dass das Publikum auf eine Pointe wartete, vielleicht hing alles an einem Nagel? Oder hing das Gedicht an einem dünnen Faden namens Ungeduld? Jedenfalls gab mir der Kuckuck keine Antwort. Das Gedicht war gewissermaßen die Inszenierung meines am Leben Hängens, am dünnen Faden. Nebenbei bemerkt möchte ich an dieser Stelle den Hasen erwähnen, der mit dem Kuckuck in den Wäldern wohnt. Ich möchte sagen, dass ihm vermutlich egal ist, wenn er der Frau mit der Scharte begegnet, da er ein Hase mit Hasenscharte ist.

Dazu ein Gedicht von Ernst Herbeck, eine Auswahl seiner Gedichte ist 2020 bei jung und jung erschienen, einiges über ihn und seine Person ist auch im Internet zu finden, hier sein Gedicht:

Die Gespaltenheit

Die Gespaltenheit ist Arbeit der Ärzte.
Diese wird auf den Nenner gebracht
die Gespaltenheit ist eine Operation,
und die Kinder wissen es schon.

Ich bin die Frau mit der Hasenscharte, so antworte ich. Als Wald will ich nicht in die Stadt der roten Ampeln, aber vielleicht als Hund, der alt wird. Ich dichte:

Ach,
sei mein Kaninchen
wenn du die langen Ohren magst,
Karotten in der Gartenstadt,
ich bin die rote Ampel,
mit Bleistift bin ich
gezeichnet.

Gewissermaßen als Zugabe möchte ich an dieser Stelle ein Gedicht von Bess Dreyer vorstellen, es handelt von einem Traum, falsch: es IST ein Traum, vielleicht IST es ein Traum jener Stadt, in der die Hunde alt werden, nicht nur die Hunde, auch die Turmbewohnerinnen, die wir sind, wir alle, die wir alle alt werden (wollen), vielleicht ohne Angst, in Zimmern mit Aussicht, mit freundlichem Licht, in dem wir uns sehen und sehnen.

im traum
haben alle häuser
türme
 
ich neide diesem ort
sein abschotten
von asseln und ameisen
 
wie möchte ich
solche fensterplätze
für mich
 
die blaugrünweiße aussicht
dies wunderbar weite licht

Jetzt sieh mal eine an, das Jahr geht bald zu Ende, die Tage werden schon wieder länger. Kuckuck! Halt den Schnabel. Hase! Nasch die Karotte! Ilse! Lass es Dir gut gehen! Dichterinnen aller Länder, erfreut Euch.