Kapitel 86: Von Nöten


Wo genau ich auf Mary Ruefle aufmerksam wurde, weiß ich nicht mehr. Manchmal ist es mir sehr unangenehm, etwas zu vergessen, ich notiere mir viel, aber nicht alles. Ich habe mir jedenfalls die Nummer 97 des Literaturzeitschrift Schreibhefts bestellt, in dem sich Texte, Interviews und visuelle Arbeiten von ihr befinden.
Mit zwei Kurzvorlesungen (abgedruckt im erwähnten und empfohlenen Schreibheft Nummer 97) von Mary Ruefle möchte ich dieses Kapitel beginnen, quasi auch anknüpfend an das vorige Kapitel, in dessen Abschlussbild sich die wirbellosen Tiere zu Wort melden.

WARUM
UNSERE LITERARISCHEN BEMÜHUNGEN
ALLE KEINEN ZWECK HABEN
Fünfundachtzig Prozent aller lebenden Spezies sind Käfer und diverse Insektenarten.
Nur Fünf Prozent der Weltbevölkerung sprechen Englisch.

WARUM
ES HOFFNUNG GEBEN KÖNNTE
Eine der bedeutendsten Geschichten, die je geschrieben wurden, handelt von einem Mann,
der beim Aufwachen feststellt, daß er in einen riesigen Käfer verwandelt wurde.

Ich gebe zu, diese beiden Kurzvorlesungen sind, streng genommen, keine Gedichte. Auch wenn man es etwas weniger streng nimmt, sind sie keine Gedichte. Oder darf ich mir herausnehmen, sie als Prosagedichte zu zitieren? Vielleicht.
Ich wusste beim Lesen nicht genau, was das Tröstende an diesen beiden Kurzvorlesungen sein könnte. Vielleicht ist es die Tatsache, dass wir nicht alleine sind und dass unsere Bemühungen nicht ungenügend sind, jedenfalls nicht deswegen ungenügend, weil wir uns zuwenig anstrengen, sondern weil es in der "Natur der Dinge" liegt.

Die Natur der Dinge.

Diesen Titel hat Maruy Ruefle den 22 Kurzvorlesungen gegeben.
Verwandlungen im Allgemeinen gehören zu den materiellen Gegebenheiten der Welt, die Verwandlung eines ganzen Menschen in einen lebenden Käfer ist bisher aber eine Einzigartigkeit, die bisher nur der Welt der Literatur stattfand.

Indessen verwandeln einige Bakterien
mein Inneres
beziehungsweise das,
was ich mir einverleibt habe
Ernährung ist Bedeutung
ich hänge daran
sehr.

Wir verwandeln uns alle. Mehr oder weniger niemals allein.

Di Lu Galay
DER TOD IST NICHT DAS ENDE

Ein Vogel starb gerade mitten im Flug -
er beendete seine Reise auf halber Strecke
& jetzt mitten in der Luft
hat er gerade den letzten
Atemzug genommen.

Die verbleibende Reise für den leblosen Vogel ist
die Entfenung zwischen Erde und Himmel.
Der Vogel ist mit dem Sterben fertig,
aber nicht mit dem Fliegen.
Auf der Erde jedoch bedeutet
der Tod normalerweise das Ende.
Andererseits gibt es immer eine Ausnahme.

Das Gedicht des in Yangon (Myanmar) lebenden Dichters Di Lu Galay habe ich seinem Lyrikband "Ein Oktopus, aber so viele Handschuhe" entnommen, der in der parasitenpresse erschienen ist. Es ist von Bedeutung poetische Stimmen wahrzunehmen, poetische Stimmen aus unserer Weltgegend, aber auch Stimmen aus anderen Weltgegenden.

Was könnte denn eine Ausnahme sein, von der in der letzten Zeile des Gedichtes die Rede ist?
Ich kenne keine. Außer im Text.
Die Metapher ist nicht die Wirklichkeit, kann aber ein Teil der Wirklichkeit sein.

Ich lese ein Buch über die Frage, was ein Lebewesen ist und wie es sich von "Dingen", die keine Lebewesen sind, unterscheidet. Gar nicht so einfach, allerdings ist eines gewiss: Menschen und andere Tiere sind Lebewesen. Ungewiss ist, ob die Sonne am Leben ist, bevor sie stirbt.
Und wie ist es mit den Gedichten?
Mit den Stimmen, die wir erheben?

Irgendwo sitzt ein Käferlein und kichert.
Es gibt viel Schönes auf der Welt.
Aber.
Aber.

Abschließend ein Gedicht von Eugen Roth.

Wer weiß
Ein Mensch schreibt feurig ein Gedicht
so wie's ihm vorschwebt wird es nicht
vielleicht hat Gott sich auch die Welt
beim Schöpfen anders vorgestellt

(Das Gedicht von Eugen Roth stammt aus dem Buch:
(Ernst Pöppel, Beatrice Wagner: "Dummheit". Riemann Verlag, München 2013)

Ergänzend möchte ich hinzufügen, dass alle an der Schöpfung historisch mehr und weniger Beteiligten, wie etwa Bakterien, Viren und andere Mikroorganismen, weiters Pflanzen, die den Sauerstoff vermehrten undsoweiter, Atome, die rund um den Atomkern rotierten, salopp ins Blaue formuliert, vielleicht, ja sogar ziemlich sicher, andere Vorstellungen und Vorschwebungen hatten. Oder vielleicht auch gar keine. Im neuen Kapitel seines Alterswerks schreibt jedenfalls Fritz Widhalm, dass Mikroorganismen viel für die Welt getan haben. Vermutlich mehr als Gott, welche Gestalt auch immer er gerade annimmt.