Kapitel 98: Fenster mit Einblick


An den Anfang stelle ich das folgende Gedicht von Friedrich Rückert. Ich hab es vor längerer Zeit im Buch "Wörterwechsel - Poetische Sprachspiele" gefunden. Ich wusste damals gar nicht, dass es einmal in diesen meinen Lyrikblog passen würde, bin mir auch jetzt nicht ganz sicher, ob es passt, aber ja, irgendwie schon. Der Titel "Fenster", den ich mir für dieses Kapitel vorgenommen hatte, bekommt allerdings plötzlich eine Schräglage. Ich nenne das Kapitel also "Fenster mit Einblick". Denn auf seine ganz spezielle Art und Weise ist ja das Gedicht wirklich ein Fenster. Und die Aussicht ist eher ein Einblick. Kein weiterer Kommentar. Hier das Gedicht:

Friedrich Rückert
Grammatische Deutschheit

Neulich deutschten auf Deutsch vier deutsche Deutschlinge deutschend,
Sich überdeutschend am Deutsch, welcher der Deutscheste sey.
Vier deutschnamig benannt: Deutsch, Deutscherig, Deutscherling, Deutschdich;
Selbst so hatten zu deutsch sie sich die Namen gedeutscht.
Jetzt wettdeutschen sie, deutschend in deutschend in grammatikalischer Deutschheit,
Deutscheren Comparativ, deutschesten Superlativ.
"Ich bin deutscher als deutsch.ˮ "Ich deutscherer.ˮ "Deutschester bin ich.ˮ
"Ich bin der Deutschereste, oder der Deutschestere.ˮ
Drauf durch Comparativ und Superlativ fortdeutschend.
Deutschen sie auf bis zum - Deutschesteresteresten;
Bis sie vor comparativisch- und superlativischer Deutung
Den Positiv von Deutsch hatten vergessen zuletzt.

Aber wie solls nun weitergehen? Welches Gedicht könnte sich eignen, hier anzuschließen, anzuschließen an ein so ruppiges, spöttisches Gedicht, man könnte auch sagen an ein Gedicht in verwilderter Sprache?
Was könnte passen, ohne sich anpassen zu müssen? Vielleicht ein Lob des Fensters? Oder doch ein weiteres Gedicht von Friedrich Rückert, das dem ersten etwas von seiner Schärfe nimmt und uns vorbereitet auf einen anderen Ton, weniger spöttisch, vielleicht besinnlich und nachdenklich?
So zitiere ich nochmal Friedrich Rückert:

Am Abend wird man klug
für den vergang'nen Tag,
doch niemals klug genug
für den, der kommen mag.

Nunja, in diesem Zusammenhang liest sich dieses Gedicht wie eine Warnung, die es ja auch ist. Ruppig ist das Gedicht zwar nicht, aber ohne leisen Spott kommt es auch nicht aus. Offenbar soll man sich nie für klug genug halten, naja, da ist natürlich etwas Wahres dran.
Ich möchte aber jetzt doch unserer Gegenwart, unserem Jetzt näher kommen, mit einem, dem für heute vorletzten Gedicht, ich zitiere aus dem Buch von Daniela Danz mit dem Titel "Wildniß".

UM ES KURZ ZU MACHEN WIR HABEN DIE ZUKUNFT
an unsere Gelenke gebunden damit sie nicht
abhaut und ja Kredite auch und Verbindlichkeiten
es bleibt nicht viel Zeit zum Betrachten der Nacht
und während eine weitere Konferenz versucht
die Hoffnungen zu Garben zu raffen sitzen wir
im Licht der Bildschirme und vergeben Signaturen
im Archiv all dessen was uns noch bevorsteht
eine kleine Sache fällt uns ins Auge: ein Tag
im Vorfrühling wo überall aus der Wiese Triebe
von Hyazinthen brechen die da noch nie waren

So ist es. Ratlosigkeit begleitet uns durch den Vorfrühling. Die Zukunft droht sich aus dem Staub zu machen. Natürlich sind da Warnungen angebracht! Aber: vermutlich werde ich trotzdem (trotzalledem, auch als Imperativ lesbar: Trotz alledem!) mit meinem Fritz nach Stockerau fahren, die Schneeglöckchen bewundern, die hoffentlich noch und wieder da sind, obwohl sie immer da waren. Immer natürlich nicht, korrigiere ich mich.
Soll dieses Kapitel hier abschließen, Warnungen, Ratlosigkeiten und ganz am Rande Schneeglöckchen oder Hyazinthen?
Ich weiß nicht. Nein eher nicht. Mir kommt nämlich ein Gedicht in den Sinn, das - eingedenk aller Ratlosigkeiten - in gebotener Einfachheit Trost zu spenden vermag, vielleicht auch Mut, und ein Spürchen Übermut.
Ich zitiere aus Inger Christensens Buch "Alphabet" das folgende Gedicht:

alphabet (1) [die aprikosenbäume gibt es]

die aprikosenbäume gibt es, die aprikosenbäume gibt es

Ich habe das Bedürfnis diesem Gedicht ein weiteres, nämlich alphabet (2) folgen zu lassen. Nur damit man sich unter Inger Christensens Alphabet etwas mehr vorstellen kann.

alphabet (2) [die farne gibt es]

die farne gibt es; und brombeeren, brombeeren
und brom gibt es; und den wasserstoff, den wasserstoff

Also, alles klar? Wir könnten unsere Fröhlichkeit den Widrigkeiten der real existierenden Wirklichkeit entgegenschleudern. Zumindest versuchen.