Fritzchens Alterswerk

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(...)
gestern war der dichter rudolf lasselsberger bei uns. wir haben texte von ihm für unsere radiosendung "literarische o-töne" aufgenommen, die einmal im monat auf radio orange gesendet wird. danach haben wir einige biere getrunken und heute ist mein kopf etwas vernebelt. na ja, ziemlich nebelig. trotzdem wird der dichter widhalm fritz sich jetzt an einem gedicht versuchen, haltet ihm die daumen.

closeo mensch, können wir aufhören ohne zu sterben?
closedie traurigkeit, o mensch, lass sie groß genug
closefür alle sein.
closein meinem kopf ist die traurigkeit überall.
closeo mensch, das meer
closeund trotzdem zu klein.
closeich irre mich oft, o mensch, auf meinem weg
closezum staub. hier scheint die sonne.
closewas ich damit wohl sagen will: o mensch!

auf meinem schreibtisch liegt eine dvd mit dem titel "parallelosphere" und ich habe keine ahnung, wie sie zu mir gekommen ist. ich werde sie mir jetzt einfach anschauen, sie dauert 39 minuten, das steht am cover.
weiters steht darauf zu lesen:
closeidea by sergei kovalsky
closedirector maxim yakubson
closecamera operator and editor georgiy porotov
closecomputer graphics by vadim tissen
closesound by sergey sinyak, anton author
closephoto valeriy mayboroda, sergei kovalsky
alle diese menschen sind mir unbekannt. klein gedruckt und leicht zu übersehen, besonders ohne meine lesebrille, die auf mir unbegreifliche art ihren üblichen platz auf meinem schreibtisch verlassen hat, ist auch noch so etwas wie ein untertitel auf dem cover abgedruckt:
close20 years of »pushkinskaya 10« art-centre
okay, dvd rein in den computer und los gehts. oder doch nicht. oder nicht doch. nach mehrmaligen versuchen und säuberungsaktionen entschließt sich die dvd doch noch ihren inhalt preiszugeben. play.
das video stellt das haus pushkinskaya 10 vor. es sind darin 57 künstler*innen zu sehen und zu hören, die in diesem haus leben, arbeiten, ausstellen, musizieren oder sonstwie damit zu tun haben bzw. in diesem haus lebten, arbeiteten, ausstellten, musizierten oder sonstwie damit zu tun hatten in diesen 20 jahren. 46 männer, 8 frauen und 3 kollektive.
die 8 frauen heißen:
closealla mitrofanova
closeanna zyazeva
closebarbara hazard
closebella gadaeva
closegalina vikulina
closeirina aktuganova
closemarina kaverzina
closemarina koldobskaya
der am häufigsten vertretene vorname bei den männern ist nikolay bzw. nicolay:
closenicolay medvedev
closenikolay sudnik
closenikolay sychov
closenikolay vasin
closenikolay yakimchuk
chris cutler ist auch einmal im art-centre pushkinskaya 10 in st. petersburg aufgetreten. chris cutler ist ein englischer drummer, der durch seine arbeit mit den bands henry cow, art bears und pere ubu einige bekanntheit erlangte. seit 1978 betreibt er das label recommended records.
die im video zu sehende art ist von vielerlei art.
center »pushkinskaya 10« is an interesting art space for fans of contemporary art. includes museum areas, two dozen galleries and an art boutique.
ich erinnere mich jetzt, dass wir das haus pushkinskaya 10 bei unserem auftritt im rahmen der IV. biennale st. petersburg 1996 besucht haben. wahrscheinlich habe ich die dvd damals nach wien mitgebracht.
mein handy meldet den eingang einer sms:
lieber herr widhalm, das wird der smarteste schulbeginn aller zeiten! denn bei magenta gibt es für jeden unter 27 jetzt das perfekte angebot: z.b. top smartphones im magenta mobile youth tarif, das erste smartphone für ihr kind oder eine smart kids watch für die kleinsten.
pech gehabt magenta, der liebe herr widhalm hat keine kinder und ist auch schon älter als 27 jahre.

close(...)
close
eine erinnerung an unser glücksschweinmuseum in der florianigasse. das museum war in einem ehemaligen damen-frisier-salon untergebracht. das ladenschild haben wir nie gewechselt, so ein schönes hätten wir uns sowieso nie leisten können. nur in der auslage hing ein pappschild mit der aufschrift "wohnzimmergalerie & glücksschweinmuseum". das ladenlokal steht nun leer, vom angekündigten hausumbau ist nichts zu sehen. die geplante erinnerungstafel kam auch nie zustande. was solls. wir haben 15 jahre mit den glücksschweinen gelebt, gelacht, gefeiert und.
und, und, und.
mit vielen menschen dieses glück geteilt.

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der krieg in der ukraine ist noch immer im gange, es sterben täglich menschen und ein paar övp-landeshauptmänner hinterfragen bereits lautstark die russland-sanktionen. man darf doch wohl noch darüber nachdenken dürfen, meinungsfreiheit, bla bla bla. övp, nein danke. bundeskanzler nehammer hält zwar dagegen, aber vielleicht plant die övp ohnehin bereits ihn durch kickl zu ersetzen.
blödsinn, fritz, kickl ist fpö, nicht övp.
o sorry, da hab ich doch glatt etwas verwechselt, sagt der dichter widhalm fritz.

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ilse hatte nachsorge. oder vorsorge. mrt. ein verdächtiger lymphknoten wird beobachtet. befund und besprechung gibt es erst in 2 wochen. wir schwitzen, obwohl der heiße sommer bereits vorbei ist. man fühlt sich seltsam allein. zu zweit allein.
gestern, 04.09.2022, waren wir am volksstimmefest. wir haben ein bisschen dem linken wort gelauscht. wirklich erbaulich war es nicht. ich weiß nicht so genau, liegt es an den dichter*innen oder an den aktuellen ereignissen?
höchstwahrscheinlich an beidem.
ich habe mir 2 bücher gekauft.
"russische kunst berlin 1919-1932" von eberhard steneberg und "lyrix - lies mein lied", herausgegeben von erik waechtler und simon bunke.
wir haben mit eva schörkhuber und andreas pavlic bier getrunken. etwas zu viel bier getrunken.
wir waren berauscht und berauschend. PROST!
andreas pavlic hat uns sein buch "ist denn das noch lyrik oder schon deutsch-punk?" geschenkt. danke.
es ist ein halbe-halbe-buch. die zweite hälfte bestreitet markus lindner mit "sternhagel".
ich glaube nicht, dass er damit auf sternhagelbesoffen anspielt.
am volksstimmefest trifft man jährlich immer die selben leute, manche davon sieht man gern und manche davon eher nicht.
am bierstand ist vor mir ein mann umgekippt, einfach umgekippt. wir haben ihn auf die seite gedreht und jemand hat die sanitäter geholt. kreislaufkollaps. der mann hat sich aber dann wieder recht flott erholt, etwas bleich im gesicht, aber immerhin. die sanitäter haben sich schließlich des problems angenommen und ich hab mich wieder meiner absicht, bier zu besorgen, zugewandt.
ilse ist heute schwimmen und ich schreibe alterswerk, ja, meistens ziehe ich das alterswerk dem schwimmen vor.
ein bisschen verkatert bin ich natürlich auch, aber das stört mein alterswerk nicht, wir sind nämlich so etwas wie die 5 freunde. ich bin 2 davon und mein alterswerk 3. warum das so ist, weiß ich nicht so genau, aber es ist so, das weiß ich. böse menschen jagen wir nicht, wir sind nämlich sammler und keine jäger.

(...)
nächstes jahr begehen ilse und ich das 40ste jahr unseres zusammenlebens. vielleicht machen wir einen ilse-fritz-kunst­band in kleiner auflage für freund*innen. werden sehen, noch sind wir zuversichtlich.
ilse und ich machen gerne kunst um das leben besser zu verstehen.
wirklich verstehen werden wir es wohl nie.
wirklich verstehen werden wir uns wohl nie.
die badesaison geht bald zu ende.
ilse macht das traurig. mich weniger.
ilse ist eine begeisterte schwimmerin. ich weniger.
vor vielen jahren habe ich eine serie mit dem titel "der alte mann und das meer" gemalt.
wirklich alt war ich damals noch nicht.
bevor ich ilse gekannt habe, war ich nie im meer schwimmen. danach auch nicht wirklich, aber immerhin war ich danach im meer.
das meer ist nicht wirklich mein zuhause.
haltet mir das meer trotzdem schön sauber.
close
so, jetzt ordne ich ein paar bücher ein und aus. ein, um die stapel gelesener bücher rund um meinen schreibtisch zu verkleinern. aus, um für die neuen bücher platz in unseren bücherregalen zu bekommen. sie sind zum bersten voll.
ich ordne gerne ein.
ich ordne nicht gerne aus.
ich übe mich darin.

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irgendwann mal sagte jemand zu mir, ich sollte öfters ja sagen und nicht immer nein. warum? weil ja kürzer ist als nein? ich sage nein danke zum klimawandel. ich sage nein danke zum krieg. ich sage nein danke zu corona. ich sage nein danke zur flüchtlingspolitik unserer regierung. ich sage oft nein danke und versuche mir eine bessere und gerechtere welt vorzustellen.
okay, zu ilse sage ich ja bitte.
ich bin kein freund von liebe.
ich bin ein freund von ilse.
ich versuche mit ilse fröhlich zu sein, mit liebe hat das wenig zu tun. wir sind schlicht und einfach füreinander da.
dada.
dort, wo dada ist, ist man auch füreinander da.
ja, das ist dada.
zweimal da.
und kein wettbewerb in originaltät oder witzigkeit.
zusammenfassung: ich sage nein danke.
close

(...)
ich war ordner bei der salman-rushdie-solidaritätslesung. 06.09.2022. gelesen habe ich nicht.
ich trug ein schildchen mit der aufschrift GAV und ging herum. und schaute herum. polizeischutz war natürlich auch da. und eine menge autor*innen, die aus seinem buch "die satanischen verse" gelesen haben. einzig das publikum fehlte. nicht ganz aber fast. die polizei hatte nichts zu tun. ich hatte nichts zu tun. fast nichts. ein paar fragen von passant*innen beantworten und freundlich lächeln. zuhören war auf dauer anstrengend, die lesung dauerte gute vier stunden. okay, solidarität ist wichtig, auch wenn sie kaum wahrgenommen wird. na ja, die medien werden schon darüber berichten, ein paar zumindest.
salman rushdie wurde wegen seinem buch "die satanischen verse" am 14.02.1989 vom damaligen iranischen staatschef ayatollah khomeini mittels einer fatwa zum tode verurteilt.
hmm, ich denke, diese geschichte ist allgemein bekannt.
jedenfalls wurde nun salman rushie am 12.08.2022 während eines vortrags von einem anhänger der armee der wächter der islamischen revolution niedergestochen und schwer verletzt. holy shit.
ich habe das buch nicht gelesen und werde es auch nicht lesen, denke ich. auch die lesungen, die ich mir aus dem buch anhörte, erweckten nicht wirklich mein interesse, aber das ist egal, dieses attentat ist schrecklich und natürlich zu verurteilen.
im artikel 18 der allgemeinen erklärung der menschenrechte ist das recht auf religionsfreiheit festgeschrieben, also jeder mensch kann seine religion frei wählen bzw. frei von religion sein. gut, mit dem frei wählen, das ist so eine sache, diesem grundsatz wiederspricht schon das sakrament der taufe. es ist aber allgemein ziemlich schwierig in seiner wahl ganz und gar frei zu sein, auch wenn man dem baby-, kindes-, jugend- oder sonstigem alter entwachsen ist.
in der vorrede zur solidaritätslesung wurde auch von der freiheit der kunst gersprochen, aber ich denke, darum geht es beim fall salman rushdie doch gar nicht.
jeder mensch hat ein recht darauf zu kritisieren.
und jeder mensch hat ein recht darauf kritisiert zu werden.
kunst hin oder her.
von der freiheit der kunst wird oft und gerne gesprochen.
okay, von freiheit reden fast alle menschen oft und gerne, meist ohne auszuführen, was sie damit genau meinen.
ich mache mir oft und gerne sorgen.
ich bin trotz aller sorgen kein kind von traurigkeit.
wie schaffte ich das bloß?

(...)
08.09.2022. ein regentag. das frühstück im caféhaus ging sich noch im trockenen aus, aber dann, plätscher plätscher. na ja, versuchen wir einen gedichttag daraus zu machen.

closedas staunen ist
closegroß
closedas staunen ist viel
closegrößer
closees beginnt ganz von allein
closeden kopf zu heben
closees steigt aus
closeunseren köpfen
closedas staunen
closemit ausgebreiteten flügeln
closesteigt hoch
closesteigt immer höher
closeauf die spitzen
closeunserer nasen
closewo es sich nackt breit macht
closeposaune, für immer posaune
closeo wunder
closeschönes staunen
closeo wunder
closeschöne posaune
closelass uns für immer
closeim staunen baden
close:
closewer das staunen nicht kennt
closeweiß nichts

okay, genug herumgebastelt, ich denke nun kann ich das gedicht freilassen, wenn ich mich nicht irre, hihi. das gedicht das staunen ist ist kein neues gedicht, die erste fassung entstand bereits 2013, seither habe ich immer wieder mal daran gebastelt und es entstanden mehrere neufassungen, die mich nie ganz überzeugen konnten, aber mir auch zu schade zum endgültigen löschen waren.
na ja, siehe anfang des absatzes.
ilse und ich haben uns doch für einen regenspaziergang entschieden. am nachhauseweg sind wir in einer buchhandlung eingekehrt und haben ein paar bücher gekauft.
man kehrt in ein wirtshaus ein, sagt ilse, bei einer buchhandlung spricht man eigentlich nicht von einer einkehr.
ich schon, sage ich, ich schon.
ich habe mir die bücher "gedanken reisen, einfälle kommen an - die welt der notiz", "der liebe und dem leid - das institut für sexualwissenschaft 1919-1933" von rainer herrn und "denken/ordnen" von georges perec gekauft.
ich lebe gerne in wien, aber manchmal doch nicht.
das ist ein zitat von georges perec, ein von mir verfälschtes zitat, georges perec schreibt eigentlich:
ich lebe gerne in paris, aber manchmal doch nicht.
das buch über die welt der notiz ist antiquarisch und hat nur 6,- euro gekostet, weil sich der vorbesitzer, die vorbesitzerin darin mit kugelschreiber notizen gemacht hat, was das buch natürlich noch um vieles interessanter macht.

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