Kapitel 10: Man liest ja auch ganz anders


Heute flatterte uns die Zeitschrift DUM ins Haus. Darin zu finden sind Textausschnitte aus der Diplomarbeit von Clara Felis, Titel "Auf den Spuren der Lyrik beim Poetry Slam". Unter anderem finden sich verschiedene Definitionsversuche der Lyrik, also Versuche, die Frage, was Lyrik nun eigentlich alles ist beziehungsweise nicht ist.
Ich zitiere: "Der Versuch, Lyrik anhand einer Theorie einzugrenzen, ist wahrscheinlich ähnlich alt wie die Lyrik selbst. Es ist daher nicht verwunderlich, dass es immer wieder neue Verständnisse der Lyrik und Perspektiven auf die Lyrik gab und gibt. Hervorstechend dabei ist, dass bislang kein einheitliches Konzept der Lyrik zu finden ist. Da die Lyrik zu der subjektivsten der drei traditionellen Gattungen der Poesie (Drama, Epik, Lyrik) gehört, hat wohl jeder ein anderes Verständnis von Lyrik."
Ich entscheide also einfach selbst, was Lyrik ist, mache mir meine Definition, beziehungsweise, brauche ich überhaupt eine Definition? Ja, hier, in diesem Work in Progress, der sich den Gedichten widmet, ihnen die Eigenschaften absonderlich und süß zuschreibt, ist es natürlich bis zu einem gewissen Grad sinnvoll, zu wissen, wovon ich spreche.
Bis zu einem gewissen Grad.
Die Zeilenumbrüche jedenfalls spielen eine große Rolle.

Man
liest
ja
auch
ganz
anders
wenn
Zeilen
ins
Weiß
führen.

Man liest ja
auch
ganz anders
wenn Zeilen ins Weiß führen.

Man liest ja auch
ganz
anders
wenn Zeilen
ins Weiß führen

Ja, man liest anders, je nachdem, wo der Satz Luft holt.

Zum Beispiel ein Teil eines Textes von A.B. Curt in verschiedenen Varianten:

prosa

kann ich jeden tag glücklich sein? die frage stelle ich nicht (wen fragen, wer weiß bescheid?), obwohl sie sich stellte, mir, schon als kind, zum beispiel, wenn lang erwartetes langsam heran durch die zeit kroch und gleich darauf schleunigst entfloh. subjektiv quasi erlebt.
auch das folgende frage ich nicht: soll ich mein herz an was hängen und wenn ja, dann an was? oder hängt was an meinem herz, zum beispiel ein lot, damit ich lotrecht stehe, auf schwankendem grund? oder ein tonnengewicht aus blei, damit ich mich nicht in die lüfte erhebe, der schwerkraft zum trotz? warum flattert mein herz so fledermausgleich in der brust? das glück gilt als vogel. manchmal als maus, als elefant, als füllhorn und als trampolin, als luftsprung ohne knöchelbruch, mir tut nichts weh, so soll es sein, und luxus ist das (nicht?).

lyrik (gekürzte fassung)

kann ich
jeden tag glücklich sein?
die frage stelle ich nicht
(wen fragen, wer weiß bescheid?),
obwohl sie sich stellte,
mir,
schon als kind,
zum beispiel,
wenn lang erwartetes langsam heran durch die zeit kroch und gleich darauf schleunigst entfloh. subjektiv
quasi
erlebt.

drama

erster akt, erste szene

ich (selbstgespräch): kann ich jeden tag glücklich sein? die frage stelle ich nicht. (kopfschüttelnd) wen fragen, wer weiß bescheid? obwohl (nachdenklicher ton) sie sich stellte, mir, schon als kind, zum beispiel, wenn lang erwartetes langsam heran durch die zeit kroch und gleich darauf schleunigst entfloh. (lacht auf) subjektiv quasi erlebt.

comic

Der Text von A.B. Curt ist vollständig erschienen in "50 Gedichte zum Leben", Wien 2014.