Kapitel 102: Arbeit?


Ich beginne mit einem Gedicht der chinesischen Autorin Zheng Xiaoqiong. Im Deutschen trägt es den Titel "Au".

AU
Eine kleine Schraube, langsam eingedreht
ins Fleisch der Industrie, dann festgezogen – – au
Plastikbahnen, Asphaltstraßen
am leicht geneigten Himmel voller Smog
steht einsam verwirrt der Mond

Das Gedicht stammt aus dem Gedichtband "Erzählung von den Konsumgütern". Erschienen ist das Buch in der Edition Poesie Dekolonie, Engeler Verlage, Schupfart, 2025. Die Gedichte sind von verschiedenen Übersetzer:innen (teilweise auch gemeinsam) übersetzt, das vorliegende Gedicht von Maja Lindemann, Sara Landa und Christian Filips.
Interessant ist auch das Gespräch, das Christian Filips mit der Autorin führt, es trägt den Titel "Drei Paar Schuh" und ist im Buch abgedruckt. Zheng Xiaoqiong sagt: Jedes Jahr produziert die Menschheit 25 Billionen Paar Schuhe. Im Durchschnitt hätte jede Person auf dem Globus drei Paar Schuh zur Verfügung. Faktisch aber hat ein Großteil der Menschen nicht einmal ein Paar Schuhe pro Jahr und lebt barfuß.
Wer Zheng Xiaoqiong lesen hören möchte, kann diesen Link anklicken, er führt zur Kultursendung des SWR.
Die Autorin hat viele Jahre als Wanderarbeiterin gelebt. Wanderarbeiter:innenlyrik, soviel sei dazu angemerkt, ist kein ganz unbekanntes Phänomen in China und wurde in kleinen Teilen auch international rezipiert. Allerdings ist ein solches Etikett wohl immer irreführend und nimmt auf die verschiedenen Arbeitsweisen beziehungsweise verschiedenen Themenstellungen nicht oder jedenfalls zu wenig Bezug.

Ja. Man kann diese Gedichte zusammendenken mit einer "Literatur der Arbeitswelt", einer Bewegung, die einerseits die Arbeitsbedingungen stark thematisierte und andererseits von Arbeitern und Arbeiterinnen geschrieben wurde, aber, wie gesagt, es ist nur eine Möglichkeit der Wahrnehmung, eine von vielen, denke ich, während ich über "Literatur der Arbeitswelt" im deutschsprachigen Raum nachlese. Berichtet wird über viele Männer und nur wenige Frauen, aber trotzdem, nein, deswegen! - möchte ich an diese Stelle ein Gedicht von Christa Reinig setzen, das sich durchaus in dieser Tradition, also als politische Kritik der Arbeitswelt lesen lässt. Es kommt aus einer anderen Weltgegend, nämlich aus Deutschland und aus einer anderen Zeit (der Gedichtband ist 1963 im S. Fischer Verlag erschienen, es liegt also mehr als ein halbes Jahrhundert zwischen den Gedichten von Zheng Xiaoqiong und Christa Reinig).

DER ANDERE

Ein andrer läuft in meinen schuhen
closund irgend wer hat meinen mantel an
closich lasse das auf sich beruhen
closich hänge nicht daran

ich bin so eingewohnt in mist
closund achte nicht mehr auf behausung
closwenn goethezweihundertjahrgeburtstagsfeier ist
closdann geh ich gerade zur entlausung

ich schwitze täglich vierzehn stunden
closund schufte und verdiene geld
closich hab ihn nur noch nicht gefunden
closden andern der es einbehält

Vorlesen lassen kann man sich Gedichte von Christa Reinig auf der Website planet.lyrik.de, dort gibt es Originalaufnahmen.
Christa Reinig wurde 1926 in Berlin geboren. Sie war Mitarbeiterin der Ostberliner satirischen Zeitschrift "Eulenspiegel" und wurde 1951 mit einem Publikationsverbot in der DDR belegt. Nachdem sie in Westdeutschland einen Literaturpreis erhielt, kehrte sie nach der Verleihung nicht in die DDR zurück und lebte in München.
Das erste, was ich von Christa Reinig gelesen habe, war ihr Roman "Entmannung", der mich sehr beeindruckt hat. Leider habe ich mir damals nur einen einzigen Satz notiert, in meinem Tagebuch, den gebe ich an dieser Stelle wieder, weil er auch zum Thema der mangelnden Verteilungsgerechtigkeit passt.
Allein mit dem Geldzählen bin ich eher fertig als meine männlichen Kollegen. Und ich trag auch leichter an meinen Scheinen, daher der Name Leichtlohn. Weil nämlich die Arbeiterfrau einer anderen Klasse angehört als der Arbeitermann.
Soweit Christa Reinig.

Nun ein Blick auf ein Buch, das ein Produkt der Arbeit ins Visier nimmt. Auch dies aus einer anderen Zeit, das Buch, auf das ich hinweise, ist 1929 erschienen. Gedicht ist es allerdings keines, eher eine Bestandsaufnahme. Es handelt sich um eines meiner Lieblingsbücher, trägt den Titel "Das Leben der Autos" und wurde von Ilja Ehrenburg geschrieben wurde. Dieses Buch geht vom Produkt, dem Auto aus und reflektiert alles, was dazugehört, bis hin zur Anzahl der Finger von Fließbandarbeitern, die in einem bestimmten Zeitraum verletzt wurden. Ich zitiere: Draußen hupen, quietschen, knattern Tausende von Autos. Ihr Lärm beinhaltet alles: die Nacht der lothringischen Bergleute, die Hitze der Kautschukplantagen, den üblen Gestank der Ölfelder irgendwo im fernen Venezuela und das Kreischen des eisernen Bandes in der Halle nebenan ... In ihrem Lärm ist sowohl der stockende Atem Monsieur Citroëns als auch das pfeifende Röcheln des schwindsüchtigen Schleifers. Die Automobile draußen rasen dahin.
Genau. Das tun die Automobile bis heute. Sie sind schneller geworden, sie sind mehr geworden und das unschuldige lächeln, das Ilja Ehrenburg ihnen zuschreibt, haben sie längst verloren.

Ich möchte noch auf ein Gedicht von Dirk Hülstrunk hinweisen. Es trägt den Titel "Arbeite" und ist ein Stück Soundpoesie, also, man kann es anhören und das sollte man auch tun.
Aber natürlich, hier erinnere ich mich an einen Text über Arbeit von Inger Christensen, soll nicht nur das Kapital bestimmen, was Arbeit ist. Arbeiten, so schreibt sie in ihrem Buch "Teil des Labyrinths", kann auch so etwas sein, wie die Lebensfreude intakt halten. Und das wiederum ist Widerspruch zum kapitalbezogenen Denken und will auch Widerspurch sein. Schließlich ist das, was die Bäume tun, keine Arbeit im 'herkömmlichen' Sinn, unbezahlt und unbezahlbar. Darum aber geht's im nächsten Kapitel.