Kapitel 16: Gedicht über Worte, die es nicht gibt


Die Grenzen unserer Sprache sind für den Sprechenden, die Sprechende kaum wahrzunehmen. Sie befinden sich innerhalb unserer Sprache, ich erinnere mich gerade an ein Buch des Kollegen Günter Vallaster, das den Titel "Hinter dem Buchstabenzaun" trug. Der Titel, so will mir jetzt scheinen, könnte als Überschrift über jedem Gedanken stehen, den wir denken. Oder auch nicht. Das Buch ist jedenfalls empfohlen, und nicht nur deswegen, weil sich auch ein kleiner Text von mir darin findet.
(Das Buch ist im Jahr 2008 in der Edition ch erscheinen, ISBN 978-3-901015-41-0). Ja, das Nachdenken über die Sprache ist immer spannend, auch und gerade deswegen, weil es in der Sprache selbst stattfindet.
Ich sehe es als Tatsache an, dass das Erlernen des Lesens, die Welt drastisch verändert, falsch, nicht die Welt an sich, sondern die Art und Weise, wie sie in Erscheinung tritt, wahrgenommen wird. Fürwahr! Mit einem Mal sind alle Gegenstände gewissermaßen beschriftet, und diese Beschriftungen sind mit verschiedenen Inhalten gefüllt: Man muss also gewahr sein, dass ein Stoff einerseits alle Stoffe umfasst, aus denen Kleider und Hosen undsoweiter genäht werden, weiters in der Philosophie die Materie selbst, in der Chemie wiederum tritt die Materie als chemischer Stoff auf, wenn sie gemeinsame Eigenschaften aufweist. Stoff ist aber auch der Begriff für ein Thema, mit dem sich zum Beispiel ein Werk oder eine Unterrichtsstunde befasst. Und natürlich ist Stoff auch ein umgangssprachlicher Begriff für Droge. Man muss also immer differenzieren, wovon gesprochen wird. Und man muss die Vielfalt erfassen, die "Stoff" ausmacht und erkennen, was alles "Stoff" sein kann. Zugleich wird Stoff etwas Festgeschriebenes, also das Wort und das Schriftbild "stehen für" Stoff. Lustig. Das Lesenlernen ist somit Zaun und Zeigefinger, Reißnagel und Fernrohr. Der Reißnagel heißt ja nicht umsonst Zwecke. Alles klar?
Zugleich ist es offensichtlich, dass die Sprache veränderbar ist und sich mit der Zeit verändert, dass also manche Worte einfach verschwinden - oder in manchen Sprachen gar nicht vorhanden sind. So ist etwa das Wort Weltschmerz ein Phänomen zum Beispiel der deutschen Sprache. Und dass das Wort Abenteuer schon als veraltet, ja sogar als vom Aussterben bedroht galt, überrascht ebenfalls (Quelle: A. J. Storfer, Wörter und ihre Schicksale, Neuauflage aus 1935 im Jahr 2000). Und manchmal fehlen die Worte einfach. Ihr Fehlen ist schwer zu bemerken, oder auch leicht, jedenfalls im folgenden Gedicht:

Kein Wort

Es gibt kein Wort dafür, dass man einen Laden verlässt
mit einer Fünfliterkanne Milch in einer Plastiktüte,
für die man besser noch eine zweite Tüte genommen hätte

- so dass man, kaum ist man draußen,
schon spürt, wie das Gewicht der Kanne
die Tasche nach unten zieht, wie die dünnen

Plastikgriffe immer länger werden,
und es ist einem klar, es ist nur eine Frage der Zeit,
dass der Tütenboden aufplatzt.

Es gibt nicht ein einzelnes, eindeutiges Wort
für das unklare Gefühl, dass sich
etwas von einem wegbewegt,

indem es die Grenzen seiner Dehnbarkeit überschreitet
- was sehr schade ist, denn das ist genau das Wort,
das ich gern benützen würde, um zu beschreiben, wie ich auf der Straße stehe

und mich mit einem alten Freund unterhalte,
während in mir die Gewissheit wächst, dass er
gar kein Freund mehr ist, sondern lediglich ein Bekannter,

eine Person, die mir nie wirklich etwas bedeutet hat
- bis wir in dem Augenblick, wo wir uns verabschieden,
wohl beide erleichtert sind

und erkennen, dass wir
etwas Geheucheltes zu Ende gebracht haben,
obwohl ich, ehrlich gesagt,

da schon über etwas anderes nachdenke:
meine Dankbarkeit für die Sprache -
wie sie sich ausdehnt, genau bis hierher und nicht weiter;

wie es ein paar Löcher gibt, die sie nicht zudeckt;
wie sie sich bewegt, wenn nicht im Innern, dann doch
im Umkreis um fast alles Existierende herum -

wie sie mir im Laufe der Jahre alles wiedergegeben hat,
all die Stunden und Tage, all die
Mühsal von Liebe und Vertrauen, all die

Missverständnisse und Geheimnisse,
die ich bereitwillig in sie hineingegossen habe.

Dieses Gedicht steht im Buch "Die Analogie" von Douglas Hofstadter und Emmanuel Sander.
Ìm obigen Gedicht bleibt mir nur eine klitzekleine Frage offen: Wie kann ich eine Person als jemand bezeichnen, die mir nie wirklich etwas bedeutet hat? Ist das nicht schon ein Indiz für Bedeutung?
Ich glaube ja. Im "Nie Etwas Bedeutet Haben" liegt ein so subtiler sprachlicher Groll, dass Bedeutung auf irgendeine Weise aufzublitzen scheint - und sei es nur die, sich über sich selber täuschen zu können und über diese Täuschung "ent-täuscht" zu sein. Klitzekleine Fragen können mitunter ganz schön anhänglich sein.
Ich will, wenn ich an Douglas Hofstadter denke, an dieser Stelle sein Buch "Ich bin eine seltsame Schleife" erwähnen. Darin findet sich der Gedanken, dass man - ich sage es etwas salopp - einen Verstorbenen bewahrt, indem man seinen oder ihren Block bewahrt, ein bisschen also durch dessen oder deren Augen schaut. Ich tue das zum Beispiel, wenn ich das Wort mehrheitlich verwende: Solcherart tun sich mir Rolf Schwendters spezielle Blickrichtungen ansatzweise auf.

An den Abschluss dieses Kapitels stelle ich ein Gedichtfragment, das ich für die Sprache selbst geschrieben habe, über sie und für sie:

Ach die Sprache
unbelehrbar
sie will Schönheit inszenieren und
vor keinem Problem
halt
halt
halt

(Das ganze Gedicht befindet sich im Buch "Ach die Sprache", das im Jahr 2006 in der Edition zzoo in Wien erschienen ist)