Kapitel 19: Kritzekratz. Das Gedicht ist am Leben.


Hm, was heißt es eigentlich, am Leben zu sein? Es gibt viele Definitionen. Naja, atmen, das ist gewisslich ein Zeichen des Lebens. Der Stoffwechsel natürlich auch. Wobei: Was genau ist ein Stoffwechsel? Versteht man darunter die Gesamtheit der chemischen Prozesse in einem Lebewesen, so ist zum Beispiel klar, dass etwas, das kein Lebewesen ist, auch keinen Stoffwechsel haben kann. Insofern kann man nicht sagen, dass ein Stoffwechsel ein Lebewesen kennzeichnet, sondern man muss sagen, dass ein Lebewesen den Stoffwechsel definiert. Also: Der Umwandlungsprozess, den beispielsweise ein Hufeisen durchläuft, indem es rostet, macht aus dem Hufeisen kein Lebewesen. Auch ein Leichnam wird durch die in ihm stattfindenden chemischen Prozesse nicht zu einem Lebewesen, es sei denn, wir befinden uns in einem Horrorfilm, in dem die Toten ihre Gräber verlassen. Lebendig sein ist aber auch eine Art von Metapher, also man kann sich lebendig fühlen, was mehr meint, als dass man die einfache Tatsache wahrnimmt, ein Lebewesen zu sein. So finden sich im Synonymwörterbuch 241 Synonyme, die in 26 Synonymgruppen unterteilt sind, darunter: blutvoll, farbig, feurig, heißblütig, lebhaft, mobil, temperamentvoll, unruhig, vif, vital, wild, aktiv, frisch, fröhlich, dynamisch, leidenschaftlich, stürmisch, temperamentvoll, übermütig, ungebärdig, besessen, beweglich, blutvoll, dynamisch, hastig, heftig, heißblütig, impulsiv, ungestüm, ausdrucksstark, anschaulich, ausladend, bedeutend, bedeutungsschwanger, bilderreich, bildhaft, bildreich, deklamatorisch, einprägsam, expressiv, farbig, inhaltsschwer, malerisch, ausdrucksvoll, existent, seiend, lebhaft, munter, temperamentvoll, ungehemmt, ungestüm, ungezähmt, ungezügelt, dynamisch, pikant, feurig...

Ja, auch das Gedicht ist lebendig. Es bebt.
Ja, auch das Leben ist lebendig. Es lebt.
Das kann man beispielsweise im folgenden Gedicht von Ernst Herbeck wahrnehmen. Ich glaube, dass es zu seinen bekanntesten Gedichten gehört. Ich zitiere es aus dem Band "Ernst Herbeck: Die Vergangenheit ist klar vorbei", den Leo Navratil und Carl Aigner herausgegeben haben. Ernst Herbeck verbrachte einen großen Teil seines Lebens in psychiatrischer Behandlung. Auf Anregung des Psychiaters Leo Navratil begann er, Gedichte zu schreiben.

Das Leben
Das leben der Hühner ist rot.
Das Beben der Nächstenliebe ist rot.
Das leben ist schön.
Beben der Herzen im Leibe der Hunde.
Das Leben der Herzen ist lieb.
Das Leben macht den Himmel heer.
Das leben möchte länger sein.
langsamer es Lebe die Liebe.
langsames Leben ist lang.

Ja, das Leben möchte länger sein, das auch. Gerade habe ich mit einer Dichterinkollegin darüber gesprochen, ob das Wissen über die Endlichkeit des Lebens und Strebens eine dunkle Wolke sei oder ein Rucksack oder ein Schatten. Und irgendwie tauchte das Bild des Mäusebussards auf, der seinen Schatten wirft, welcher von der Maus erkannt und gefürchtet wird. Meine Dichterinkollegin überlegte, ob sie sich als Maus fühlte unter dem Schatten der begrenzten Zeit, die der Mäusebussard symbolisiert. Ich aber bellte und sagte: Ich bin ein Hund. Wieso ein Hund? Ich liebe sein struppiges Wesen. Hm, und ich könnte sagen: In meinem Leib bebt ein Hundeherz.

Übrigens bin ich im chinesischen Sternzeichen ein Hund. In der real existierenden Wirklichkeit bin ich aber ganz einfach Ilse Kilic.

Wo
zu
bin
ich
da?

So fragt das Gedicht das Gedicht.
Die Frage verstehe ich nicht, das Herz klopft die Antwort im Morsealphabet. Ich knurre.