Kapitel 25: Süß


Ich überlege gerade, wieso ich (Fritz Widhalm zitierend) schrieb, dass Gedichte absonderlich und süß sind. Absonderlich, ja, ich bin auf das Wort eingegangen, habe ausgeleuchtet, warum es mir passend erscheint, warum es mir sogar sympathisch ist. Aber warum süß? Kann es im Sinne eines Gedichtes sein, dass (zum Beispiel) ich es "süß" finde? Süß, ich muss lächeln, süß kann viel bedeuten, ja natürlich, eine Grundqualität des Geschmacks, soweit, so gut. Schokolade ist süß. Im Buch "Metaphysik der Röhren" vom Amélie Nothomb ist der süße Geschmack von Schokolade gleichsam eine Art Erweckung: das Kind wird solcherart davon überzeugt, dass das Leben lebenswert ist.

Kinder weinen
Narren warten
Dumme wissen
Kleine meinen
Weise gehen in den Garten.


Dieses Gedicht von Joachim Ringelnatz ist auf seine Weise süß, indem es die Süße an die Wand malt, die Süße eines Gartens, der auf seine Art und Weise dazu beiträgt, dass wir (?) uns am Leben freuen können. Aber, sagen wir so: Etwas das süß ist, kann in Erinnerung rufen, dass nicht alles süß ist. Es hätte ja keinen Sinn, das Wort süß zu verwenden, wenn es nicht auch sauer, bitter, salzig und scharf gäbe, nicht wahr? Und so entstandene Kombinationsgeschmacksrichtungen: Süßsauer wie eine Essiggurke, bittersüß wie dunkle Schokolade (Das Wort Schokolade leitet sich laut Wikipedia vom Namen des ersten kakaohaltigen Getränks der Azteken ab, dem xocólatl wörtlich: bitteres Wasser). Es gibt aber auch die Bitterorange, und, natürlich "bittersüße Erlebnisse und Gefühle", natürlich, auch wenn ich nicht ganz genau weiß, was das ist. Gemeinsam könnten wir uns aber gewiss etwas darunter vorstellen oder dem "bittersüß" entgegentreten, naja: vielleicht.

Vom süßen Leben habe ich in meinem Buch "Das Wort als schöne Kunst betrachtet" berichtet. Am Anfang war es ein natürliches Produkt der Runkelrübchen, allerdings gab es schon bald den Wunsch, es in Tablettenform herzustellen, ein Patent anzumelden und es auf den Markt zu bringen, natürlich nur für jene, die es sich leisten konnten. Diese hatten danach ständig den Mund voll süßem Leben, die anderen nahmen den Mund voller Worte und versuchten, die Welt zu verändern.

Haha.
Haha.
Haha.

(=auch ein Gedicht)

Die Süße von Gedichten liegt aber auch darin, dass sie gewissermaßen blitzartig etwas zum Vorschein bringen, nämlich zum Beispiel die Tatsache, dass all das Streben nach Süße, nach so genanntem Glück usw. eine riesengroße Werbemaschinerie ist, die uns versucht, mit dem Leben und seinen Unbillen zu versöhnen. Beständig und halbherzig versöhnen wir uns, einverstanden sind wir deswegen nicht. Noch lange nicht!

ich beginne den missglückten tag

Das ist ein Einzeiler von Ernst Jandl. (Er steht im Band "Letzte Gedichte", München 2001).

Und schon läutet das Telefon und eine Stimme fragt:

Was ist dir lieber:
von einem Rhinozeros gefressen zu werden
oder dass sich ein Elefant auf dich setzt?


(Diese eleganten Zeilen stammen aus einem Kinderbuch von John Burningham)

Ja, Gedichte sind absonderlich und süß. Sie sind zugleich allerdings ganz normal, sauer und scharf. Sie sind heiter und bitter und natürlich:

Worte aller Länder, verbittert!
Worte aller Länder, versüßt!
Worte aller Länder, versalzt!