Kapitel 29: Jeden Tag lese ich ein Gedicht


Und manchmal schreibe ich eines. Manchmal schreibe ich auch keines.
Manchmal genügt es mir, ein Gedicht zu lesen.

Heute las ich abends ein Gedicht von Nikolaus Scheibner.

die hand hat
fünf söhne

mit der anderen

keine tochter
zu sehr

mit beiden

händen
die hand
muss tun was die
hand tun muss

nicht genügend

mit einer
auch-hier-ist-
der-zucker-artig

Und ich erinnere mich dabei an eine Lesung, ja manche Gedichte treten beim Wiederlesen mit der Stimme des Autors oder der Autorin auf. Ich erinnere mich also an die Stimme und insbesondere an die Stimme, die die Worte "nicht genügend" sprach. Lesen ist eine Kunst. Die Worte sprangen durch den Raum auf mich zu. Und sie springen immer wieder! Was haben die Worte "nicht genügend" an sich, außer dass sie immer passen, überall gewissermaßen. Dass sie immer beängstigend passend sein können. Oder könnten? Quasi? Vielleicht?
Naja. Ich bin schmerzlich überrascht, wie diese Schulnote im Gedächtnis bleibt. Und was für ein Kummer, wie viele Tränen, wegen einem "Nicht Genügend", einer Schulnote. Schade, dass es solche Schulnoten gibt. Es gibt natürlich viele Möglichkeiten von "nicht genügend". Gerade deswegen hüpften die beiden Worte wohl gleich aus dem Gedicht heraus und sprangen auf mich zu.
Und dann fügte ich dem Nikolaus-Gedicht ein Ilse-Gedicht hinzu, einen Nachsatz gewissermaßen, hier ist er:

Aber der Zucker!
Aber die Hände!
Aber das Müssen!
Aber Fünf!
Nicht genügend.

Aber der Daumen!
Der Zeigefinger!
Der Mittelfinger!
Der Ringfinger!
Der kleine Finger!
Nicht genügend!