Kapitel 36: Alte und neue Weisheiten


Ich stelle an den Anfang dieses Kapitels ein Gedicht von Heinrich Heine.

Weltlauf

Hat man viel, so wird man bald
Noch viel mehr dazu bekommen.
Wer nur wenig hat, dem wird
Auch das Wenige genommen.

Wenn du aber gar nichts hast,
Ach, so lasse dich begraben ---
Denn ein Recht zum Leben, Lump,
Haben nur, die etwas haben.

Es war also schon früher so wie jetzt. War es immer so wie jetzt? Hoffentlich nicht.
Wobei das "jetzt" klingt, als wäre "jetzt" der Gipfel der Schlechtigkeit. Nein, "jetzt" ist nicht der Gipfel der Schlechtigkeit, obwohl mir "jetzt" schwer zu schaffen macht. Man könnte geradezu sagen "jetzt" reicht mir und steht mir bis zu beiden Ohren.

Einige Sätze dazu:
Soziale Ungleichheit nimmt weltweit immer schneller zu. Wie dramatisch das ist, zeigt eine Zahl der Organisation Oxfam: Die 62 reichsten Menschen besitzen so viel wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung - und der Trend hält an.
Ein Grund für die Entwicklung ist Oxfam zufolge die unzureichende Besteuerung von großen Vermögen und Kapitalgewinnen sowie die Verschiebung von Gewinnen in Steueroasen.
(Die Daten stammen aus dem Spiegel online Wirtschaft, abgefragt am 4. April 2016)

Diese Sätze sind kein Gedicht.

Zur Umverteilung gibt es an dieser Stelle kein Gedicht. Nur ein Bild, zu dem sich ein jeder, eine jede etwas denken kann.

Es gibt viele tröstende Gedichte darüber, dass Reichtum nicht glücklich macht. Ein solches zitiere ich nicht. Ich glaube zwar auch nicht, dass Reichtum zwangsläufig glücklich macht, wer aber das Gefühl hat, dass Reichtum unglücklich macht, hat, sofern er über diesen Reichtum verfügt, alle Möglichkeiten, sich dessen zu entledigen. Umgekehrt ist es allerdings schwieriger: Wer das Gefühl hat, dass Armut unglücklich macht, tut sich schwer, diese Armut mit dem Reichtum zu vertauschen, naja, vielleicht gewinnt er ja im Lotto. Soll vorkommen.

Nunja.
Zum Abschluss dieses Kapitels stehen ein Auszählreim von Christine Nöstlinger. Er stammt aus dem Buch "Überall und neben dir. Gedichte für Kinder und Erwachsene" (sehr empfohlen und vielleicht auch noch erhältlich, hier gibt es noch mehr Auszählreime, die die ganze Geschichte - die ganze Misere - ins rechte, das heißt ins düstere Licht rücken).

Einer ist reich
und einer ist arm
einer erfriert
und einer hats warm.

Übrigens gibt es einen Film über Arm und reich in Österreich. den kann man sich im Internet anschauen. Und es gibt einen Film als kleine Hommage an Veza Canetti. Man sieht ihn im Sendungschannel der WohnzimmerFilmRevue auf okto.tv
(http://www.okto.tv/wohnzimmerfilmrevue, Sendung vom 8.4. 2013).

Er handelt vom Kamel und dem Nadelöhr und davon, dass für Reiche im Paradies kein Platz ist. Vermutlich aber gibt es kein Paradies, schon gar nicht auf Erden.
Eine andere Welt ist nötig.