Es gibt Gedichte, bei denen ich die
Luft anhalte vor Schreck. Zugleich bin ich glücklich darüber,
nicht alleine zu sein mit diesem seltsamen Leben, der Trauer darüber,
dass es ist wie es ist, mit dem Festhaltenwollen, dem Verstreichen der
Zeit, den tausend kleinen Nadelstichen. Beim Schreiben des Wortes "Festhaltenwollen"
zieht das Schreibprogramm des PC jene kleine rote Linie, die mich auf
einen Rechtschreibfehler hinweist: Das Wort gibt es nicht. Korrekturvorschläge
gibt es nicht. Fest halten wollen, sich festhalten wollen, etwas festhalten
wollen, FEST HALTEN WOLLEN. Ja:
lasst uns das
fallen feiern,
wie es festet!
lasst uns fest fallen wenn wir feiern
lasst uns das feiern was wir leben.
lasst uns das feiern was wir ab.
So dichtete Magdalena Knapp Menzel. Diese fünf
Zeilen sind allerdings nur ein kleiner Auszug aus ihrem Gedicht. Man
kann dieses Gedicht anhören und zwar im Archiv von okto.tv, man
muss da ganz einfach auf WohnzimmerFilmRevue klicken und dann die Sendung
100 auswählen, naja und ab Minute 4:52 liest Magdalena Knapp-Menzel
dieses Gedicht. Hörenswert und sehenswert!
Im Zusammenhang mit dem Luft anhalten vor Schreck
steht auch das Gedicht von Anja Golob. Zu Feiern gibt es dabei allerdings
wenig, um nicht zu sagen nichts. Das Gedicht ist ein lebender Widerspruch
zu den Bedingungen des Lebens, ja manches wäre veränderbar,
was es eigentlich noch bitterer macht, manches ist quasi eine Konstante
des Lebens.
Das folgende Gedicht von Anja Golob stammt aus ihrem Gedichtband: ab
und zu z neigungen (hochroth Verlag 2015).
Die Übersetzung aus dem Slowenischen stammt von Urška P. Cerne
und Uljana Wolf
Wenn die dicke Dame singt
Ein paar von uns werden im
Suff krepieren,
andere ertrinken, im Graben landen, mit dem Fahrrad stürzen.
Hier eine akute Depression, dort Hepatitis C,
die meisten von uns werden zum Ausgang krebsen,
mindestens einer, wette ich: Schlaganfall beim Sex,
ein paar im Bad umfallen und auf dem Boden liegen.
Mancher wird wohl Selbstmord begehen.
Andere abends einschlafen, morgens nicht mehr aufstehen.
Ein paar von uns haben abgetrieben,
manchen steht es noch bevor,
manche können keine Kinder kriegen,
manche wollen keine haben.
Die mit mehr Geld werden in Altersheimen landen,
unterm Hämmern der Sekundenzeiger auf dem Flur,
schaler Inkontinenzgeruch und welke Blumen,
wieder andere auf der Straße, aus Augen und Sinn,
manche in den maroden Häusern ihrer Eltern.
Deren Diagnosen tropfen schon aus unseren Telefonen
und wir notierten ihre Besuche bei Spezialisten, ihre
Therapien, die Namen ihrer Medizin, langsam schließt sich
die Klammer der Ohnmacht um uns - wir : Alter =
0 : 1.
Selten (aber immer öfter) kaufen wir Blumen,
senden Beileidskarten, löschen Nummern
aus Handys. Selten (aber immer öfter) ahnen wir
die steigende Frequenz des Dunkels in uns.
Doch bevor uns alles Stück für Stück verschlingt, arbeiten
wir.
Arbeiten viel, arbeiten, was wir kriegen können, meist vor Bildschirmen
auf schlechten Stühlen, mit krummen Rücken, Sandwiches statt
Lunch.
Mal erreicht uns eine gute Nachricht, mal ein handgeschriebener Brief,
mal ein gutes Buch, ein Film, ein neues Album, Ausstellung, Konzert,
mal sagt jemand auf der Bühne einen Satz, der durch
die vierte Wand bricht und bleibt. Mal macht einer
seinen Doktor, mal gewinnt einer im Lotto,
mal bekommt einer ein Kind. Mal reist einer ab,
schickt eine Karte, es gehe ihm gut, und meint es ernst,
mal geht einer mit dem andern nach Haus und der Sex ist wow,
am Morgen stellt man sich nicht an, bloß ein gegenseitiges
"Thanks, man sieht sich, mach's gut", und tschüss, manchmal,
nur manchmal, auch ein Regenbogen.
Wir schauen, lesen, sprechen, hören zu,
wir schreiben ab und zu was auf. Folgen dem Fortschritt, schaffen
diverse Geräte an und lernen heimlich, sie zu verwenden.
Selten klettern wir auf Berge, selten kiffen wir oder schauen
in die Sterne, selten singen wir, riskieren was, schließen selten
die Augen.
Aber solange einer noch im untergehenden Licht des Tages
an einer Brücke lehnt und träumend Züge anstarrt,
solange einer nachts mit seiner Dose mitten in der hübschen
niederländischen Landschaft zu einem verwaisten Container radelt
und die ganze Vorderseite wulstig mit dem Wort RELAX besprayt,
solange in der hintersten Ecke des Kindergartens noch ein Kind steht,
still,
in sich gekehrt, und mit einem Stöckchen oder Spatengriff
konzentriert und eifrig durch einen Zaunspalt
in der Erde draußen stochert, auf der anderen Seite,
solange sind wir sicher. Ist noch nicht ernst, ernst.
Auch dieses Gedicht von Anja Golob kann man anhören
und zwar in der slowenischen Originalversion, auf www.lyrikline.org,
in die Suchfunktion Anja Golob eingeben.
Übrigens: Gestern waren wir unterwegs auf dem
Bierhäuselberg und haben einen Regenbogen gesehen.
Es ist ein gewagter Sprung durch Jahrhunderte, an
den Abschluss dieses Kapitels ein Gedicht von August von Platen zu stellen.
Thematisch passt es aber hierher, also wage ich den Sprung.
Es liegt an eines Menschen
Schmerz, an eines Menschen Wunde nichts,
Es kehrt an das, was Kranke quält, sich ewig der Gesunde nichts,
Und wäre nicht das Leben kurz, das stets der Mensch vom Menschen
erbt,
So gäbs Beklagenswerteres auf diesem weiten Runde nichts.
Einförmig stellt Natur sich her, doch tausendförmig ist ihr
Tod,
Es fragt die Welt nach meinem Ziel, nach deiner letzten Stunde nichts.
Und wer sich willig nicht ergibt dem ehrnen Lose, das ihm dräut,
Der zürnt ins Grab sich rettungslos und fühlt in dessen Schlunde
nichts.
Dies wissen alle, doch vergißt es jeder gerne jeden Tag.
So komme denn, in diesem Sinn, hinfort aus meinem Munde nichts!
Vergeßt, daß euch die Welt betrügt, und daß ihr
Wunsch nur Wünsche zeugt,
Laßt eurer Liebe nichts entgehn, entschlüpfen eurer Kunde
nichts!
Es hoffe jeder, daß die Zeit ihm gebe, was sie keinem gab,
Denn jeder sucht ein All zu sein und jeder ist im Grunde nichts.
Dieses Gedicht von August von Platen steht im Gutenbergspiegel
im Netz. Ich habe dazu einen kleinen Film gemacht, den man wiederum
auf okto.tv, im Archiv ansehen kann und zwar bei der WohnzimmerFilmRevue
vom 19.12.2011.