Kapitel 45: Vom Glück(en) der Gedichte


Ich beginne dieses Kapitel mit einem Gedicht von mir. Es ist im zeitzoo des Halbjahres 2016 veröffentlicht.

Ich lege ein Wort ein für jedes Gedicht, das nicht glückt

Ich trinke Wasser, das Millionen Jahre alt ist.
Es war inzwischen Wolke oder Regen oder befeuchtete die Lippe einer Großmutter,
brachte die Badewanne eines Babys zum Überlaufen,
wusch Kalk aus dem Felsen und fror einen Teich zu,
auf dem ich als Kind das erste Mal auf Schlittschuhen stand,
kann ja sein.
Ein bisschen bin ich da, wo ich bin.

Dann lese ich einen Text über Kriterien eines geglückten Gedichts.
Gleich stelle ich meine Haare auf, ja ich kann das,
ich lege die Stirne in Falten,
ich lege ein Wort ein für jedes Gedicht, das nicht glückt.
Ich brauche den Ort für das Stottern, Stolpern und Straucheln,
für den unmelodischen Schrei und auch für das große Bemühen.
Ich lege ein Wort ein für jedes Gedicht.

Es gibt kein Gelingen ohne Misslingen.
Ich bin jetzt da wo ich bin.
Ein bisschen bin ich. Auch selbst.

Aber was genau bedeutet das? Und wieso beginne ich einen Text vom Glück der Gedichte mit einem Gedicht über das Missglücken? Das ist vielleicht ganz einfach zu erklären: So wie es kein Gelingen ohne Misslingen gibt, gibt es auch kein Glücken ohne Missglücken. Oder doch? Gibt es heiß ohne kalt? Wahr ohne falsch? Ein ohne aus? Ich denke an den folgenden Text von Liesl Ujvary:

Was die Welt zusammenhält

Harte Zeiten - Weiche Knie
Volle Brüste - Leere Taschen
Heisse Nächte - Kalter Kaffee
Saure Trauben - Süsses Leben
Enge Hosen - Weite Herzen
Teure Heimat - Billige Angebote
Reiche Ernte - Arme Schlucker
Grosse Chancen - Kleine Fische
Dünne Suppe - Dicke Luft
Leichte Mädchen - Schwere Geschütze
Helle Köpfe - Dunkle Geschäfte
Lange Finger - Kurzer Prozess
Alte Lieder - Neue Gesichter
Scharfe Sachen - Milder Wein

Dieses Gedicht befindet sich in Liesl Ujvarys Buch "Sicher & Gut", das im Jahr 1977 im Rhombus Verlag erschienen ist.
In dem Buch "Wichtig - Kunst von Frauen", das ich im Jahr 1989 gemeinsam mit der Autorin Christine Huber herausgegeben habe, zitiert Liesl Ujvary ihr Gedicht als Verweis auf die aristotelische Logik und das damit zusammenhängende Wertesystem. Liesl Ujvary fragt sich, ob sich (wie etwa der Mathematiker George Boole annahm) menschliches Denken vollständig durch zwei Werte beschreiben lässt: wahr oder falsch.
Dieses Regelsystem beruht auf dem Satz der Identität, dem Satz vom Widerspruch und dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten:
1. Alles ist mit sich selbst identisch und verschieden von anderem.
2. Von zwei Sätzen, von denen einer das Gegenteil des anderen aussagt, muss einer falsch sein.
3. Von zwei sich völlig widersprechenden Aussagen muss eine wahr, eine falsch sein.
Ja und sie zeigt die Problematik dieses, ich nenne es mal salopp "Denkens in Gegensatzpaaren" auf.
Das kann man auch auf ihrer Homepage nachlesen, die ihre "Wiener Vorlesungen zur Literatur enthält": http://ujvary.mur.at/wildcard.html

Ich habe mein Gedicht, also das "Wort, das ich für jedes missglückte Gedicht einlegte", einer Kollegin geschickt und sie sendete mir eine Antwort (danke, Anna Mayer), die ich nun, als Abschluss des Kapitels wiedergebe:

Ich lege ein Wort ein für jedes Gedicht, das beglückt

Ich trinke Bier aus Hopfen und Malz.
Bier gibt es seit 10.000 Jahren. Vielleicht. Meine Großmutter trank es,
während ich als Kind das erste Mal auf Schlittschuhen stand,
kann ja sein.
Ein bisschen bin ich da, wo ich bin.Dann lese ich ein Gedicht über ein missglücktes Gedicht.
Gleich stelle ich meine Haare auf, ja ich kann das,
ich lege die Stirne in Falten,
und presse die Lippen aufeinander.
Das Wort missglückt macht mich misstrauisch.
Ich stolpere. Ein unmelodischer Schrei lässt mich straucheln.
Ich bemühe mich mühsam.
Ich lege ein Wort ein für jedes Gedicht.

Es gibt kein Glück ohne Beglücken.
Ich bin jetzt da wo ich bin.
Ein bisschen bin ich.
Hopfen und Malz. Auch.

(c) Anna Mayer

Ich muss aufpassen, dass ich mit meinen Kapiteln zum Thema "Gedichte sind absonderlich und süß" nicht durcheinanderkomme. Irgendwo muss es ein kleines Inhaltsverzeichnis geben. Ganz im Sinne von Ordnung. Ja, an diese Stelle passt ein Zitat des Schriftstellers Fritz Widhalm, mit dem ich das Fröhliche Wohnzimmer teile: "Schafft viele Ordnungen und die Ordnung ab".