Ich beginne dieses Kapitel mit einem
Gedicht von mir. Es ist im zeitzoo des Halbjahres 2016 veröffentlicht.
Ich lege ein Wort ein für
jedes Gedicht, das nicht glückt
Ich trinke Wasser, das Millionen
Jahre alt ist.
Es war inzwischen Wolke oder Regen oder befeuchtete die Lippe einer
Großmutter,
brachte die Badewanne eines Babys zum Überlaufen,
wusch Kalk aus dem Felsen und fror einen Teich zu,
auf dem ich als Kind das erste Mal auf Schlittschuhen stand,
kann ja sein.
Ein bisschen bin ich da, wo ich bin.
Dann lese ich einen Text über
Kriterien eines geglückten Gedichts.
Gleich stelle ich meine Haare auf, ja ich kann das,
ich lege die Stirne in Falten,
ich lege ein Wort ein für jedes Gedicht, das nicht glückt.
Ich brauche den Ort für das Stottern, Stolpern und Straucheln,
für den unmelodischen Schrei und auch für das große
Bemühen.
Ich lege ein Wort ein für jedes Gedicht.
Es gibt kein Gelingen ohne
Misslingen.
Ich bin jetzt da wo ich bin.
Ein bisschen bin ich. Auch selbst.
Aber was genau bedeutet das? Und wieso beginne ich
einen Text vom Glück der Gedichte mit einem Gedicht über das
Missglücken? Das ist vielleicht ganz einfach zu erklären:
So wie es kein Gelingen ohne Misslingen gibt, gibt es auch kein Glücken
ohne Missglücken. Oder doch? Gibt es heiß ohne kalt? Wahr
ohne falsch? Ein ohne aus? Ich denke an den folgenden Text von Liesl
Ujvary:
Was die Welt
zusammenhält
Harte Zeiten - Weiche Knie
Volle Brüste - Leere Taschen
Heisse Nächte - Kalter Kaffee
Saure Trauben - Süsses Leben
Enge Hosen - Weite Herzen
Teure Heimat - Billige Angebote
Reiche Ernte - Arme Schlucker
Grosse Chancen - Kleine Fische
Dünne Suppe - Dicke Luft
Leichte Mädchen - Schwere Geschütze
Helle Köpfe - Dunkle Geschäfte
Lange Finger - Kurzer Prozess
Alte Lieder - Neue Gesichter
Scharfe Sachen - Milder Wein
Dieses Gedicht befindet sich in Liesl Ujvarys Buch
"Sicher & Gut", das im Jahr 1977 im Rhombus Verlag erschienen
ist.
In dem Buch "Wichtig - Kunst von Frauen", das ich im Jahr
1989 gemeinsam mit der Autorin Christine Huber herausgegeben habe, zitiert
Liesl Ujvary ihr Gedicht als Verweis auf die aristotelische Logik und
das damit zusammenhängende Wertesystem. Liesl Ujvary fragt sich,
ob sich (wie etwa der Mathematiker George Boole annahm) menschliches
Denken vollständig durch zwei Werte beschreiben lässt: wahr
oder falsch.
Dieses Regelsystem beruht auf dem Satz der Identität, dem Satz
vom Widerspruch und dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten:
1. Alles ist mit sich selbst identisch und verschieden von anderem.
2. Von zwei Sätzen, von denen einer das Gegenteil des anderen aussagt,
muss einer falsch sein.
3. Von zwei sich völlig widersprechenden Aussagen muss eine wahr,
eine falsch sein.
Ja und sie zeigt die Problematik dieses, ich nenne es mal salopp "Denkens
in Gegensatzpaaren" auf.
Das kann man auch auf ihrer Homepage nachlesen, die ihre "Wiener
Vorlesungen zur Literatur enthält": http://ujvary.mur.at/wildcard.html
Ich habe mein Gedicht, also das "Wort, das
ich für jedes missglückte Gedicht einlegte", einer Kollegin
geschickt und sie sendete mir eine Antwort (danke, Anna Mayer), die
ich nun, als Abschluss des Kapitels wiedergebe:
Ich lege ein Wort ein für
jedes Gedicht, das beglückt
Ich trinke Bier aus Hopfen
und Malz.
Bier gibt es seit 10.000 Jahren. Vielleicht. Meine Großmutter
trank es,
während ich als Kind das erste Mal auf Schlittschuhen stand,
kann ja sein.
Ein bisschen bin ich da, wo ich bin.Dann lese ich ein Gedicht über
ein missglücktes Gedicht.
Gleich stelle ich meine Haare auf, ja ich kann das,
ich lege die Stirne in Falten,
und presse die Lippen aufeinander.
Das Wort missglückt macht mich misstrauisch.
Ich stolpere. Ein unmelodischer Schrei lässt mich straucheln.
Ich bemühe mich mühsam.
Ich lege ein Wort ein für jedes Gedicht.
Es gibt kein Glück ohne
Beglücken.
Ich bin jetzt da wo ich bin.
Ein bisschen bin ich.
Hopfen und Malz. Auch.
(c) Anna Mayer
Ich muss aufpassen, dass ich mit meinen Kapiteln
zum Thema "Gedichte sind absonderlich und süß"
nicht durcheinanderkomme. Irgendwo muss es ein kleines Inhaltsverzeichnis
geben. Ganz im Sinne von Ordnung. Ja, an diese Stelle passt ein Zitat
des Schriftstellers Fritz Widhalm, mit dem ich das Fröhliche Wohnzimmer
teile: "Schafft viele Ordnungen und die Ordnung ab".