Kapitel 46: KürZungen


Das Haiku ist eine kurze Form, aber man kann auch dies noch kürzen. Wie etwa Gerhard Jaschke in seinen Gekürzten Haikus, veröffentlicht in Zeitzoo Halbjahr 2016.

Gekürztes Haiku
(Von fünf - sieben - fünf Silben
auf drei - fünf - drei kommen)

Abendrot
über den Bergen
wer es kennt

Ich erinnere mich jetzt an einen Beitrag aus einem literarischen Blog von Andreas Unterweger, in dem ich gelegentlich lese. Der Beitrag heißt "Sonst kann ich nix!" (Gespräch über das Schreiben) und er handelt in einem kleinen Ausschnitt von der Schriftstellerin Michèle Grangaud und ihrem Projekt der geschmolzenen Gedichte (Poème fondus). Da heißt es: Da gabs von der Michelle Grangaud ein schönes Experiment, wo sie die Sonette von Joachim de Bellay aus dem 16. Jahrhundert hergenommen hat und aus diesen Sonetten jeweils ein Haiku destilliert hat, wo sie nur Wörter verwendet hat, die in dem Sonett drinnen waren, und daraus hat sie dann ein Haiku gemacht. Und in dem Haiku steht ja oft das Gleiche in viel kürzerer Form drinnen, und manchmal ganz was anderes.
(Zu finden auf: http://andreasunterweger.wordpress.com/tag/michelle-grangaud/ - abgerufen zuletzt am 14.1. 2016)
Und in der Tat ist mir Michelle Grangaud bekannt, ist sie doch als Vertreterin der Gruppe Oulipo im Buch vor Astrid Poier Bernhard mit einem Kapitel und einem Interview präsent.
Eines ihrer geschmolzenen Gedichte gebe ich an dieser Stelle wieder, vielleicht kann es ja der eine oder die andere auch auf französisch lesen.

Les neiges fondront.
Tiens le loup par les oreilles,
attends et demeure.

Im erwähnten Buch steht es auf Seite 288, das Buch von Michelle Grangaud heißt: "D‘une petite haie, si possible belle, aux Regrets". Das Originalgedicht könnte man im Buch von Bellay nachlesen, dieses heißt: "Les regrets et autres oeuvres poetiques". Man kann sich natürlich auch ein Originalgedicht dazu ausdenken, ja, ich versuche das jetzt:

Ich fürchte mich nicht vor dem Schnee.
Auch wenn er schmilzt bin ich kein Wolf,
doch ich bleibe gefesselt. Angst und Sorge
schmelzen nicht. Meine Schultern sind schwer.
Sanft fällt mir Schnee auf den Kopf.

Jetzt kann man natürlich dieses Gedicht von mir wieder zu einem Haiku "schmelzen" und es wird mit Sicherheit ein anderes Haiku werden als jenes von Michelle Grangaud. Und aus jenem Haiku kann man wieder ein langes Gedicht erfinden undsoweiterundsofort. Da capo senza fine sozusagen.