Kapitel 5: Sieben Mal: Ich weiß es nicht. |
Nicht wissen ist gewiss ganz normal. Oder doch nicht? Gewiss ist jedenfalls, dass es mehr gibt, was ich nicht weiß, als was ich weiß. Wobei wissen jetzt ein sehr unbestimmter Ausdruck ist. Wissen. Ja, wissen meint vieles. Ich kann zum Beispiel die chemische Formel von Alkohol wissen oder das Datum, an dem die Frauen in Österreich wählen "durften", ich kann wissen, was ich will beziehungsweise was ich nicht will und ich kann wissen wie spät es ist. Ich kann wissen, dass mir ein Text, ein Gedicht, ein Bild, ein Musikstück gefällt. Ich kann wissen, wo ich wohne. Ich kann wissen, wo du wohnst. Ich kann wissen, dass wir zusammen wohnen. Ich kann wissen, dass die Hagebutte die Frucht des Rosenstrauchs ist und dass eine Ziege Milch gibt, wie man die Ferse eines Sockens strickt oder was OULIPO bedeutet. Das sind ganz unterschiedliche Formen des Wissens. Ich kann nicht wissen, was meine Nachbarin in diesem Augenblick denkt, ich kann nicht wissen, ob ich mich an ein Ereignis meiner Vergangenheit richtig erinnere. Es ist mir auch möglich, nicht zu wissen, wie ein Verbrennungsmotor, ein Elektronenmikroskop oder eine Rechenmaschine funktioniert oder warum mir Kastanien so gut gefallen, wenn sie in ihrer weichen Schale liegen. Es ist mir möglich, nicht zu wissen, was den geografischen Nordpol vom magnetischen Nordpol unterscheidet und warum mir manche Texte gefallen. Mir gefällt das folgende Gedicht von Christian Futscher: Das Gedicht stammt aus Christian Futschers Buch "Was mir die Ader erzählt". Ich muss immer ein bisschen lächeln, wenn ich das Gedicht sehe und lese. Sehe und lese, das ist richtig, denn das Bild und der Text, gewissermaßen Bildunterschrift sind gemeinsam das Gedicht. Ich lächle also das Gedicht an. Vor allem das Bäumchen lächle ich gerne an. Warum steht das Bäumchen von Christian Futscher am Abgrund? Ich
weiß es nicht. |