Kapitel 53b: Die Sonne und die Weltlage 2


Ich beginne mit einem Gedicht von Dragica Rajcic. Es stammt aus ihrem Buch "Post Bellum":

Statistik

Reich
reich ist dies land
wer hören will
kauft sich hörgerät
satt ist der bauch
weis der hemd
kein honigwein aber
lebkuchen überall

woran liegt es
das ich nicht schreiben kann
reich sind wir

Und weil es ja um die Weltlage geht noch ein zweites Gedicht von Dragica Rajcic, das den Titel "Weltlage" trägt:

weltlage in Kurzzusammen vassung

zusammenbruch in osten
einzelnbruch in Westen
nach und ach

zivilisation verbraucht
Worter
wo mensch bleibt
fragt sich teufel

in der ecke des gartens
verfault organische speise
naturspirale in Gittern
weit und breit
nimand
voll hoffnung
optimale verstopfung
nur so weiter
nur so fort
Menschen bessinen sich
auf das Stammbaum
kein wunder
das baume hinfehleg sind

Und, nein, ich habe nicht so viele Tippfehler gemacht. Ich mache viele Tippfehler, aber hier handelt es sich um eine bewusst angewendete "fehlerhafte Sprache" (so nennt es das Vorwort des Buches).

Wo aber ist die Sonne? Sie sollte in keinem Bericht über die Weltlage fehlen. Schließlich steht sie unbeirrbar am Himmel, auch wenn man sie nicht sehen kann. Im Moment kann ich sie nicht sehen. Es ist Abend geworden. Ich vertraue aber darauf, dass ich sie morgen wieder zu Gesicht bekommen werde. Ein bisschen Vertrauen gehört zum Leben dazu. Andererseits ist es nicht immer leicht, das Vertrauen und das Leben. Jedenfalls aber: Die Sonne versucht zu scheinen und irgendwo scheint sie immer, sogar dann, wenn bei uns in Wien Nacht ist oder wenn ich die Augen schließe oder eine schwarze Wolke sich zwischen mich und die Sonne geschoben hat. Die Zukunft kennt man übrigens erst, wenn sie da ist. Das habe ich auch schon bemerkt.

Im Buch "Alexanders Poetische Texte" dichtet Alexander (Ernst Herbeck) über die Zukunft folgendermaßen:

Die Zukunft.

Die Zukunft ist ein Wegweiser
die Zukunft muss das besser wissen.
ohne Zukunft gibt es leider kein Leben.
In der Zukunft liegt der Tod uns zu Füssen.

Besonders gut gefällt mir die Vorstellung, dass der Tod uns in der Zukunft zu Füssen liegt. Nein, besonders gut gefällt mir die Vorstellung, dass es ohne Zukunft kein Leben gibt. Denn genau genommen sind wir immer ein Stückchen in der Zukunft, auch wenn wir in der Gegenwart sind. In der Vergangenheit sind wir auch immer ein bisschen. Aber anders. Und so verweise ich abschließend auf den Dichter Sigismund Dominikowitsch Krschischanowski, der geschrieben hat, dass Vergangenheit ein "Ergebnis der Verdrängung einer Wahrnehmung A durch Wahrnehmung B" ist. Und weiter: "Erhöht man jedoch die Resistenz von A, nimmt B nicht den Platz von A ein (…). Vorausgesetzt, das Bewusstsein wäre so umfassend, dass die darin zusammenlaufenden Wahrnehmungen einander nicht bedrängen, würde die Gegenwart für alle reichen." (Zitiert aus Adam Thirlwell: "Der multiple Roman")