Kapitel 54: Vom Erschrecken der Seele


Ich beginne mit einem Auszug aus einem Gedicht von Karoline von Günderrode. Es stammt aus ihren poetischen Fragmenten.
(Man kann diese nachlesen unter: http://www.zeno.org/Literatur/M/Günderrode).
Ich habe die zitierten Zeilen dem Buch "Die Treffsicherheit des Lamas" von Christian Steinbacher entnommen:

Jegliches Ende
Schrecket die Seele,
Scheucht des Gedankens
Ringen und Streben
Rückwärts. Die Schranken
Aller der Dinge
Werden da sichtbar.
Endlichkeit redet
Wehmuth zum Herzen,
Lähmet das Leben
Muthiger Lust.

Zeilen wie diese wirken über die Jahrhunderte hinweg. Sie sind quasi von dauerhafter Aktualität, da wir alle mit diesem Bewusstsein der Endlichkeit "aller Dinge" leben müssen. Diese Endlichkeit und Vergänglichkeit betrifft alles und uns alle, ist eine biologische und politische Gegebenheit.
An dieser Stelle sei auch erwähnt, dass die so genannte Lebenserwartung nicht unabhängig von materiellen Ressourcen gesehen werden kann und muss. Nichtsdestotrotz: Die Endlichkeit des Lebens gehört zu seinen Konstanten. Auch die Reichen leben nicht ewig, glücklicherweise.

Ich denke gerade an ein Zitat der bereits verstorbenen Schriftstellerin Anita Pichler, das ich mir einst ins Tagebuch geschrieben habe und das ich jetzt, im Internet unterwegs, auf der Seite "Geschockte Patienten" wiederum entdeckt habe. Dies ist eine Seite von Christoph Schlingensief, die auch nach seinem Tod online ist.
Dort steht:
Kennt jemand die Schriftstellerin Anita Pichler? Sie schrieb:
"Abschied gibt es und die ganze Welt. Und immer wieder Abschied davon."

Und in diesem Zusammenhang auch ein Zitat von Christian Steinbacher: "Na ja, wir alle leben da halt wieder einmal auf sehr unsicherem Grund, nicht?"

Und, ja, in der Tat, so ist es.
Ja, in der Tat, das Wissen um die Endlichkeit aller Dinge ist unsicherer Grund, wackelig, so wie wir selbst, und manchmal schwer auszuhalten. Hat es Sinn, die Augen zu schließen? Gelegentlich ja. Auf die Dauer erweist sich das Augenschließen jedoch als hinderlich, da es die Endlichkeit nicht zum Verschwinden bringt, die Betrachtung fallweise tröstlicher Schönheit sowie die Achtsamkeit gegenüber den im Lebenslauf platzierten Hindernissen aber verringert.
Allerdings gibt es Gedichte, Kunstwerke, die quasi wie offene Augen sind, die uns zur Seite stehen in der Ratlosigkeit des Lebens, jedes Lebens, aber auch in der Unzufriedenheit mit der Realität, die darauf hofft, verändert zu werden, während wir selbst uns verändern, während sie uns verändert.

Ich aber mache am Ende dieses Kapitels eine scharfe Kurve und bringe ein Gedicht von der Liebe, ein Gedicht, das als Handlungsanleitung zur Begegnung gelesen werden könnte und in diesem Sinne ein politisches Gedicht ist, wie auch "Liebe" ein politisches Geschehen ist, veränderbar, aber doch auch konstant. Das Gedicht stammt von Michael Oondatje. Ich zitiere es aus dem Buch von Maggie Nelson mit dem Titel "Die Argonauten".

Küsse auf den Bauch

Küsse auf dein vernarbtes
Hautboot. Geschichte ist
worauf du gereist bist
und was du bei dir trägst

Jeder von uns wurde
auf den Bauch geküsst
von – für den anderen – Fremden

und zumindest ich
gebe jedem meinen Segen
der dich da geküsst hat

Und übrigens: "If all my days are numbered then why do I keep counting?" (Textzeile der US-amerikanischen Rockband The Killers)