Kapitel 55: Fiktion und Glück


Das Glück kann verschiedene Formen annehmen. Laut meiner Oma war es ein Vogerl, dem man Salz auf den Schwanz streuen musste, um es zum Bleiben zu bewegen. Das Glück kann aber auch ein Schmetterling sein, man kann man ihm beim Flattern zusehen. Das Glück kann aber auch ein Glas Bier sein, ein tiefes Luftholen, das kein "Luftschnappen" ist, ein gemeinsamer Abend oder eine gemeinsame Nacht, ein Abend oder ein Zimmer für sich allein. Auch ein Stück Schokolade kann das Glück sein, davon erzählt zum Beispiel das Buch "Die Metaphysik der Röhren" von Amélie Nothomb. Vieles kann Glück sein, wenn man damit glücklich ist, sozusagen.

Ein ganz besonders Glück befindet sich im Gedicht von Ria Endres. Es stellt sich nicht nur die Frage nach Dauer, sondern auch danach, ob es in der so genannten real existierenden Wirklichkeit verortet ist. Das Gedicht befindet sich im Band "nichts überstürzen" (Rimbaud, Aachen 2017).

ist das alles nur fiktiv

und das Glück
nicht tot zu sein
kam als Wimpernschlag
zur Tür herein

Ich habe das Gedicht dem Hammer, der Zeitung der Alten Schmiede, entnommen. Der Hinweis auf einen Krankenhausaufenthalt aufgrund lebensbedrohlicher Wirbelsäulenverletzungen verortet das Gedicht in der persönlichen Erfahrungswelt der Autorin. So tritt es nicht nur in einen Zusammenhang mit meinem eigenen persönlichen Erleben, sondern auch mit den Gedichten von Martin Kubaczek, der in seinem Buch "Nebeneffekte" seine Krebserkrankung und die dazu gehörigen Denk- und Erfahrungswelten thematisiert.

Ich zitiere daraus das Gedicht "Schnee in den Bergen", das von der 'glücklichen Furcht' spricht. Martin Kubaczeks Lyrikband "Nebenfeffekte", aus dem das Gedicht stammt, ist 2015 in der Edition Korrespondenzen erschienen.

Schnee in den Bergen

Laufe durch Schnee, weiß
dass es vorüber sein könnte
in diesem Jahr, oder im nächsten

Dass es schlimmer wird, und dass es
Dinge gibt, von denen ich noch nichts weiß
und alles, was ich erlebe

dieser Schwung und diese Drehung
der Schulter, das Gleiten und Steigen
mit den Skiern durch den Steilwald

Eis auf den Bäumen und die Luft
in den Lungen, der Atemzug füllt mich
und strömt, mit pochendem Herz

wie die Lust der Bewegung
mich trägt und ich steige im Sturm
hinauf über die leere Fläche

Der Sturm schießt und wirft
mit Eisnadeln gegen mich, beißt
in Wangen und Kiefer, gegen die Stirn

Ein Umriss, manchmal
wenn der Wind nachlässt oder die Wolken
darüberjagen, eine Kontur

Zieh eine Türe auf
klopfe den Schnee ab
drücke mich in den Vorraum

noch erhitzt von Steigen
durch Wechten und Verwehungen
in glücklicher Furcht


Dieses Gedicht führt weit weg von der Krankheit, andererseits aber steht es in Zusammenhang: alles steht in Zusammenhang, ja, und fast alles steht in Zusammenhang mit der Krankheit, jedenfalls dann, wenn man krank ist.

Abschließen möchte ich das Kapitel 55 mit zwei Gedichten von Christine Huber. Eines besteht nur aus einer einzigen Zeile. So will ich jetzt auch nicht mehr dazu sagen als einige wenige Worte, nämlich: Verzweigen verlangsamt den Lauf (manchmal) auf tröstliche Art und Weise. Das Gedicht von Christine Huber habe ich ihrem Lyrikband "großes mühlenstein / staunen" (1994) entnommen.

es ist zeigerlauf bestimmtes zeitverzweigen

Das zweite Gedicht von Christine Huber stammt aus der Anthologie "Eine andere Welt ist möglich. Absonderlich und süß. Ungleiche Gedichte" (2016). Es ist ein Haiku, und, ja vielleicht ergibt sich beim Lesen eine Beziehung zum Wimpernschlag, zum Glück und zu den Dingen 'von denen ich nichts weiß', zur glücklichen Furcht also: ja, vielleicht.

mit dem kopf auf stand
das dreiste / morgen wieder
unrast allemal