Kapitel 56: Der Mut im täglichen Schatten


Ich beginne dieses Kapitel mit einem Gedicht von Gerhard Kofler. Es stammt aus seinem Lyrikband "Das Universum der kostbaren Minuten / L'universo dei minuti preziosi", der im Jahr 2013 mit Gedichten aus Gerhard Koflers Nachlass erschienen ist. Die Gedichte sind in den beiden Sprachen italienisch und deutsch verfasst, Gerhard Kofler verfasste seine Gedichte konsequent zweisprachig.

SEMPLICE CORAGIO
aspettare
il tramonto
dopo che
il sole
ti era compagno
per tutta
la giornata.

quanto
semplice
coraggio
nel tuo
transito
ti porta!.

EINFACHER MUT
den sonnenuntergang
erwarten
nachdem
die sonne
dich den ganzen
tag lang
begleitet

wieviel
einfachen
mut
bringt es dir
in deinen
transit!

Ja es gibt sie, die kostbaren Minuten, manchmal Stunden, mit sehr viel Glück vielleicht auch mal ganze Tage. Aber man muss aufmerksam sein, damit sie einem nicht durch die Finger rutschen, in der Alltäglichkeit, die manchmal so eine Art hat, sich schwer zu machen. Weil es eben die Schwere gibt, macht es uns auch die Leichtigkeit manchmal schwer, sie zu erkennen. Und, ja, wir brauchen Mut, für das alltägliche Leben, aber auch dafür, die Schönheit wahrzunehmen, immer wieder - auch und gerade auch im Transit (wenn uns das Herz weh tut).
Wie aber schließe ich an dieses Gedicht an, das vom Mut spricht und vom "Transit", für welchen der Mut Not tut? Das Wort "Transit" umgibt sich mit einem Schatten, es beschattet das Gedicht gewissermaßen vom Ende her, es ist die Schwelle: Wir könn(t)en verstehen, was es meint. Der Vorstellung der Schwelle folgend, füge ich an diese Stelle ein Gedicht von Tomas Tranströmer an.

Namenszüge

Ich muss über die dunkle
Schwelle steigen.
Ein Saal.
Das weiße Dokument leuchtet.
Mit vielen Schatten, die sich bewegen.

Alle wollen es unterzeichnen.
Bis das Licht mich einholte und die Zeit zusammenfaltete.

Dieses Gedicht stammt aus Tomas Tranströmers Gedichtband: „In meinem Schatten werde ich getragen. Gesammelte Gedichte".
In gewisser Weise stehen diese beiden Gedichte einander kontrastierend gegenüber, auch wenn der Schatten in beiden präsent ist, deutlich und undeutlich ausgesprochen beziehungsweise in den Raum geworfen: Es geht es um die Vergänglichkeit der Zeit, die vergeht und alles mitnehmen will.
Ans Ende dieses Kapitel will ich ein Gedicht von Sophie Reyer stellen, eines, das sich der Schönheit widmet. Es stellt gewissermaßen eine Verbindung zu Gerhard Koflers Sonnenuntergang her und es wirkt selbst als kostbarer Moment, indem es gelesen wird. Ein Stückchen Transit wohnt allerdings auch in ihm, auch wenn es keinen Schatten wirft.

:mmmmm
Warum die Bäume fliegen:mmmmm
wegen der Vögelmmmmm
in ihnenmmmmm

Das Gedicht von Sophie Reyer stammt aus ihrem Gedichtband "Schnee schlafen" (2017).