Kapitel 57: Die Unruhe in der Figur


Nein, das Buch von Donna Haraway, auf das ich hinweisen will, ist kein Lyrikband. Es heißt "Unruhig bleiben" und streng genommen hat es an dieser Stelle nichts zu suchen. Manche Sätze jedoch könnten durchaus ein Gedicht sein, was immer das nun bedeuten soll. "Oktopi Wall Street" zum Beispiel könnte der Titel eines Gedichtes sein und "Intervertebrates are 97% of animal diversity" ist eigentlich schon ein ganzes Gedicht. Kurz gesagt: es geht um das Leben und die Lebenskunst auf einem beschädigten Planeten und, ich füge hinzu, in einer Situation, in der auch wir selbst nicht ohne Beschädigungen davonkommen.
Davon wissen auch die Gedichte, ja, viele Gedichte wissen Bescheid.
So wie etwa jenes von Christel Steigenberger, das ich in den Versnetzen 11 entdeckt habe:

In die Landschaft zwischen den Jahren eine Linie legen
wie die zwei Hälften einer Nuss // Januar bis Dezember // die
Misserfolge archivieren die guten Vorsätze auflisten als Achtsamkeitsübung
nach DBT tief einatmen den Geruch des Schwarzpulvers
in dieser einen zwielichten Nacht // explodieren und dabei
Geister vertreiben von Soll und Haben // ja // das Leben als
individuelle Eurozone in goldenen Sternen kreisen lassen // ein
Oben und Unten auf der Landkarte definieren und Mandarinen
filettieren // in kleinste grammatikalische Einheiten

hier ist die Wiese und dort ist der Wald

Als ich die letzte Zeile von Wiese und Wald lese, denke ich an die unendliche Wiese, die im Text "Pubertät mit Mädchen" von Fritz Widhalm vorkommt. Sie ist quasi eine Art Paradies, das es eigentlich nicht gibt, das aber möglicherweise innerhalb von Texten und Personen überleben kann. Das Soll und Haben ist der unendlichen Wiese ein Dorn und über die individuelle Eurozone rümpft sie wahrscheinlich die Nase, nicht nur zwischen den Jahren. Zwischen den Jahren bezeichnet die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr, die gewissermaßen aus der Zeit fallen. Das alte Jahr lässt sich mit dem Verschwinden Zeit, das neue mit dem Beginnen, das Schwarzpulver wartet auf den Moment des Explodierens, ja und danach? Soll und Haben sind noch da, Oben und Unten ist noch da. Wiese und Wald sind noch da, erfreulicherweise noch da.

Die Versnetze übrigens versammeln auf über 300 Seiten deutschsprachige Lyrik der Gegenwart, überwiegend aus Deutschland, geordnet nach Postleitzahlen. Leseempfehlung!

Auch das folgende Gedicht weiß Bescheid. Das Bescheidwissen ist jetzt ein Luftschnappen, ein Knurren gegen die Verhältnisse, ein Ausdruck des Widerspruchs und der Beharrlichkeit sowohl im Einbringen der eigenen Position als auch im Wahrnehmen anderer, vielleicht verwandter, vielleicht auch ein wenig fremder Positionen. Das Gedicht stammt von Audre Lorde, die sich selbst als black lesbian feminist mother poet warrior bezeichnet. In ihrem Buch "Zami. Eine neue Schreibweise meines Namens" berichtet sie: Ich weiß noch, wie es war, jung und Schwarz und lesbisch und einsam zu sein.
Was Audre Lorde mit mir, Ilse Kilic, verbindet ist nicht nur die Tatsache, dass sie an Brustkrebs erkrankt war (sie ist allerdings an dieser Krankheit im Alter von 58 Jahren gestorben), sondern auch, dass sie stark kurzsichtig war. Ihre Beschreibungen der Welt, die sie sieht, wenn sie keine Brille aufhat, gleichen meinen eigenen - verschwommenen - Wahrnehmungen.

Wer sagte, es sei einfach

Zum Baum des Zorns gibt es so viele Wurzeln
daß die Äste manchmal brechen
bevor sie tragen.

Bei Nedicks sitzend
treffen sich die Frauen bevor sie marschieren
sprechen sie über die schwierigen Mädchen
die sie einstellen damit sie frei sind.
Ein fast weißer Barkeeper übergeht
einen wartenden Bruder um sie zuerst zu bedienen
und die Damen nehmen
die vordergründige Annehmlichkeit ihrer Sklaverei
weder zur Kenntnis
noch weisen sie sie zurück.

Aber ich die ich bestimmt bin von meinem Spiegel
und meinem Bett
sehe Ursache in der Hautfarbe
ebenso wie im Geschlecht

und sitze hier und frage mich
welches meiner Ichs wird
all diese Befreiungen überleben.

Ich habe dieses Gedicht aus Audre Lordes Buch "Die Quelle unserer Macht" entnommen. Die Übertragung aus dem amerikanischen Englisch stammt von Marion Kraft und Sigrid Markmann. Ich zitiere an dieser Stelle auch die englische Originalfassung aus dem zweisprachigen Lyrikband.

Who said it was simple

There are so many roots to the tree of anger
that sometimes the branches shatter
before they bear.

Sitting in Nedicks
the women rally befor they march
discussing the problematic girls
they hire to make them free.
An almost whote counterman passes
a waiting brother to serve them first
and the ladies neither notice nor reject
the slighter pleasures of their slavery.

But I who am bound by my mirror
as well as my bed
see cause in colour
as well as sex.

and sit here wondering
which me will survive
all these liberations.

Ich mache hier einen scharfen Bogen zu einem Gedicht, das die Japanerin Toyo Shibata in ihrem einhundertsten Lebensjahr schrieb. Es ist schon etwas Ungewöhnliches und in diesem Sinne etwas Besonderes, einhundert Jahre alt zu sein und in den allerletzten Lebensjahren zur Lyrik zu finden. Ich weiß nicht, inwieweit das Wissen, dass dieses Gedicht von einer so hochbetagten Frau stammt, meine Lesart beeinflusst hat, berührend finde ich ihre Hoffnung auf Güte allemal. Hier das Gedicht, es stammt aus Toyo Shibatas Gedichtband "Du bist nie zu alt, um das Leben zu lieben".

EINE EPIDEMIE
Irgendwo auf der Welt
ist gerade Krieg
Irgendwo in Japan
wird gerade ein Mensch gequält
Irgendwann
greift ja vielleicht
eine Epidemie der Güte um sich
Zeichen des Mitgefühls
wünsche ich mir tausendfach