Das Gedicht von Mascha Kaléko 
          ist eines, das allen Angsthasen (auch mir) das Angsthaben erleichtert, 
          indem es uns zeigt, das wir nicht alleine sind, dass es also gewissermaßen 
          "ganz normal" ist, Angst zu haben. Das Gedicht beinhaltet 
          aber auch eine Ermunterung, die Angst davon zu jagen - falsch: nicht 
          die Angst schlechthin, sondern die Ängste, also den Plural der 
          Angst und die Angst vor diesen gerne im Plural auftretenden Ängsten.
          Ein bisschen Angst und Ängste hat das Gedicht in sich aufgenommen, 
          wenn es vom Leid spricht und den Koffer bereithält, oder wenn es 
          von der Wunde spricht, die "wach" gehalten werden muss. Beim 
          Wort "Wunde" fällt mir Christoph Schlingensief ein: "Zeige 
          deine Wunde", hörte ich ihn sagen (Aufführung von "mea 
          culpa" im Jahr 2010), als wäre es selbstverständlich, 
          eine solche sein eigen zu nennen. Von solch Selbstverständlichkeit 
          geht auch das Gedicht von Mascha Kaléko aus. Dass aber auf die 
          "wachzuhaltende" Wunde in der nächsten Strophe das "Wunder" 
          folgen kann, verjagt die Ängste zumindest "vorübergehend".
         Rezept
          
          Jage die Ängste fort
          Und die Angst vor den Ängsten.
          Für die paar Jahre
          Wird wohl alles noch reichen.
          Das Brot im Kasten
          Und der Anzug im Schrank.
          
          Sage nicht mein.
          Es ist dir alles geliehen.
          Lebe auf Zeit und sieh,
          Wie wenig du brauchst.
          Richte dich ein.
          Und halte den Koffer bereit.
          
          Es ist wahr, was sie sagen:
          Was kommen muß, kommt.
          Geh dem Leid nicht entgegen.
          Und ist es da,
          Sieh ihm still ins Gesicht.
          Es ist vergänglich wie Glück.
          
          Erwarte nichts.
          Und hüte besorgt dein Geheimnis.
          Auch der Bruder verrät,
          Geht es um dich oder ihn.
          Den eignen Schatten nimm
          Zum Weggefährten.
          
          Feg deine Stube wohl.
          Und tausche den Gruß mit dem Nachbarn.
          Flicke heiter den Zaun
          Und auch die Glocke am Tor.
          Die Wunde in dir halte wach
          Unter dem Dach im Einstweilen.
          
          Zerreiß deine Pläne. Sei klug
          Und halte dich an Wunder.
          Sie sind lang schon verzeichnet
          Im grossen Plan.
          Jage die Ängste fort
          Und die Angst vor den Ängsten.
        
          (aus: "Die paar leuchtenden Jahre", dtv 2003)
        
         Zum Abschluss dieses Kapitel nun ein 
          Gedicht über die Angst von Ilse Kilic, das bin ich. Es wurde zum 
          ersten Mal in "Versnetze 11" (Weilerswist 2018) veröffentlicht, 
          kommt allerdings auch in meinem Buch "Das Buch in dem sie Kontakt 
          aufnehmen" (Ritter Verlag 2018) in einer leicht geänderten 
          Fassung vor. Es befasst sich weniger mit "unserem" Umgang 
          mit der Angst sondern damit, wie die Angst uns begegnet. Die Angst bleibt 
          hier im Singular, wir aber sind in der Mehrzahl.
        Am Anfang war die Angst
          ganz allein in der Welt.
          Sie suchte sehr lange
          und dann erfand sie die Menschen.
        Die Angst trägt dick 
          auf
          mit Pinsel und Farbe
          doch ich bin mit Bleistift
          gezeichnet.