Kapitel 61: Für Angsthasen


Das Gedicht von Mascha Kaléko ist eines, das allen Angsthasen (auch mir) das Angsthaben erleichtert, indem es uns zeigt, das wir nicht alleine sind, dass es also gewissermaßen "ganz normal" ist, Angst zu haben. Das Gedicht beinhaltet aber auch eine Ermunterung, die Angst davon zu jagen - falsch: nicht die Angst schlechthin, sondern die Ängste, also den Plural der Angst und die Angst vor diesen gerne im Plural auftretenden Ängsten.
Ein bisschen Angst und Ängste hat das Gedicht in sich aufgenommen, wenn es vom Leid spricht und den Koffer bereithält, oder wenn es von der Wunde spricht, die "wach" gehalten werden muss. Beim Wort "Wunde" fällt mir Christoph Schlingensief ein: "Zeige deine Wunde", hörte ich ihn sagen (Aufführung von "mea culpa" im Jahr 2010), als wäre es selbstverständlich, eine solche sein eigen zu nennen. Von solch Selbstverständlichkeit geht auch das Gedicht von Mascha Kaléko aus. Dass aber auf die "wachzuhaltende" Wunde in der nächsten Strophe das "Wunder" folgen kann, verjagt die Ängste zumindest "vorübergehend".

Rezept

Jage die Ängste fort
Und die Angst vor den Ängsten.
Für die paar Jahre
Wird wohl alles noch reichen.
Das Brot im Kasten
Und der Anzug im Schrank.

Sage nicht mein.
Es ist dir alles geliehen.
Lebe auf Zeit und sieh,
Wie wenig du brauchst.
Richte dich ein.
Und halte den Koffer bereit.

Es ist wahr, was sie sagen:
Was kommen muß, kommt.
Geh dem Leid nicht entgegen.
Und ist es da,
Sieh ihm still ins Gesicht.
Es ist vergänglich wie Glück.

Erwarte nichts.
Und hüte besorgt dein Geheimnis.
Auch der Bruder verrät,
Geht es um dich oder ihn.
Den eignen Schatten nimm
Zum Weggefährten.

Feg deine Stube wohl.
Und tausche den Gruß mit dem Nachbarn.
Flicke heiter den Zaun
Und auch die Glocke am Tor.
Die Wunde in dir halte wach
Unter dem Dach im Einstweilen.

Zerreiß deine Pläne. Sei klug
Und halte dich an Wunder.
Sie sind lang schon verzeichnet
Im grossen Plan.
Jage die Ängste fort
Und die Angst vor den Ängsten.


(aus: "Die paar leuchtenden Jahre", dtv 2003)

Zum Abschluss dieses Kapitel nun ein Gedicht über die Angst von Ilse Kilic, das bin ich. Es wurde zum ersten Mal in "Versnetze 11" (Weilerswist 2018) veröffentlicht, kommt allerdings auch in meinem Buch "Das Buch in dem sie Kontakt aufnehmen" (Ritter Verlag 2018) in einer leicht geänderten Fassung vor. Es befasst sich weniger mit "unserem" Umgang mit der Angst sondern damit, wie die Angst uns begegnet. Die Angst bleibt hier im Singular, wir aber sind in der Mehrzahl.

Am Anfang war die Angst
ganz allein in der Welt.
Sie suchte sehr lange
und dann erfand sie die Menschen.

Die Angst trägt dick auf
mit Pinsel und Farbe
doch ich bin mit Bleistift
gezeichnet.