Kapitel 62: Schnee


Als ich als Kind zum ersten Mal Schnee sah ..., STOPP, ich korrigiere, der erste Schnee, an den ich mich erinnere..., STOPP, ich korrigiere wiederum: Ich erinnere mich an kein "erstes Mal Schnee", aber ich erinnere mich, dass Schnee für mich als Kind eine schöne Erfahrung war. Die Stadt wurde still, der Boden weich und die Schneekristalle glitzerten. Was ich damals nicht wusste: Jedes enthält rund 100 Trillionen unterschiedlich angeordneter Wassermoleküle.
Zu diesen Erinnerungen passt ein Gedicht von Rainer Maria Rilke.

Es gibt so wunderweiße Nächte

Es gibt so wunderweiße Nächte,
drin alle Dinge Silber sind.
Da schimmert mancher Stern so lind,
als ob er fromme Hirten brächte
zu einem neuen Jesuskind.

Weit wie mit dichtem Diamantstaube
bestreut, erscheinen Flur und Flut,
und in die Herzen, traumgemut,
steigt ein kapellenloser Glaube,
der leise seine Wunder tut.


Der Schnee lässt sich zuweilen aber auch anders sehen. Er tritt nämlich auch als unberechenbare Natur auf, bildet Lawinen und Schneebretter, er ist kalt, er ist schwer, das weiß jede, die schon mal Schnee geschaufelt hat. Von Dauer ist er nicht. Und, obwohl er kalt ist, wärmt er. Ich erinnere mich gerade an eine Lyrikanthologie mit dem Titel "Unter der Wärme des Schnees" (Herausgegeben u.a. von Georg Bydlinski in der Edition Umbruch im Jahr 1988). In der Tat besteht frisch gefallener Schnee bis zu 95% aus eingeschlossener Luft und bildet einen guten Wärmeisolator, der Pflanzen unter der Schneedecke vor Frost schützt. Schnee also als vielgestaltiges Phänomen, in der Literatur genauso wie auch in der so genannten real existierenden Wirklichkeit.
Im Gedicht von Jürgen Völkert-Marten geht es nicht um die Wärme, eher aber um die Schneedecke, die keine Decke des Vergessens ist, sondern in die Trauer der Erinnerung zurückführt.

Schneefall, Todesfall Jürgen Völkert-Marten

Schneefall, Todesfall

Immer diese Erwartung
Dinge erklären zu können
Es schneit unerwartet heftig
und heftig kehrt Trauer
um Verlorenes zurück
Erklärungen halten nicht stand
wenn die Seele nachfragt
Warum also suchen
nach Sinn Logik Irgendwas
Die gequälte Natur lacht
uns mit längerem Atem aus

Die japanische Dichterin Hiromi Ito macht den Schnee zum Thema eines Gedichtes über das Schicksal. Es kann einer dabei Angst und Bang werden, ganz ohne Blut, das den Schnee rot färbt, wenn es zwischen den behaarten Zehen hervortritt. Weil das Schicksal manchmal Schnurgerad ist und man es lesen kann, wenn man seinen Spuren folgt, manchmal in der Ferne und manchmal ganz nah, während man wunderschön schreibt: „Ich will es zeigen".

Schnee Hiromi Ito

Schnee

Als ich den Fußspuren mit den Augen in die Ferne folgte
begriff ich, es hatte einen Hasen erwischt
Die schnurgerade Spur war der Fuchs, sagte man
hoppelpop, hoppelpop, die Spur der Hase
Schnurgerad und Hoppelpop vermischten sich
und gingen in ein Schnurgerad über
Blut fand sich keins
Hoppelpop wehrte sich nicht einmal
Ich bin barfuß
Schuhe und Strümpfe zog ich aus
bin dort ganz entblößt
Du siehst es
Als ich Schuhe und Strümpfe auszog
kamen auf meinen Zehen Haare zum Vorschein
Blut trat zwischen den Zehen hervor
Du siehst auch das
Ich schreibe
Du siehst auch das
Ich will es zeigen
denke ich
Auch du schreibst
Ich sehe es
Wie wunderschön dieser Mann schreibt
Wie wunderschön
der Mann, die Männer, die Frauen
Du hörst zu schreiben auf und steckst es ein
Mir willst du es wohl nicht zeigen
Du ziehst deine Schuhe an
und gehst hinaus über das schneebedeckte Feld
Ich bleibe hier zurück
Wenn Hoppelpop über das Schneefeld geht
ereilt es das Schicksal Schnurgerad
das geschieht gewiß, wenn die Dämmerung einsetzt
am Morgen

(Das Gedicht von Hiromi Ito stammt aus ihrem Buch "Mutter töten", das 1993 im Residenz Verlag erschienen ist. Übersetzung von Irmela Hijiya Kirschnereit.)