Als ich als Kind zum ersten Mal Schnee
sah ..., STOPP, ich korrigiere, der erste Schnee, an den ich mich erinnere...,
STOPP, ich korrigiere wiederum: Ich erinnere mich an kein "erstes
Mal Schnee", aber ich erinnere mich, dass Schnee für mich
als Kind eine schöne Erfahrung war. Die Stadt wurde still, der
Boden weich und die Schneekristalle glitzerten. Was ich damals nicht
wusste: Jedes enthält rund 100 Trillionen unterschiedlich angeordneter
Wassermoleküle.
Zu diesen Erinnerungen passt ein Gedicht von Rainer Maria Rilke.
Es gibt so wunderweiße Nächte
Es gibt so wunderweiße Nächte,
drin alle Dinge Silber sind.
Da schimmert mancher Stern so lind,
als ob er fromme Hirten brächte
zu einem neuen Jesuskind.
Weit wie mit dichtem Diamantstaube
bestreut, erscheinen Flur und Flut,
und in die Herzen, traumgemut,
steigt ein kapellenloser Glaube,
der leise seine Wunder tut.
Der Schnee lässt sich zuweilen aber auch anders sehen. Er tritt
nämlich auch als unberechenbare Natur auf, bildet Lawinen und Schneebretter,
er ist kalt, er ist schwer, das weiß jede, die schon mal Schnee
geschaufelt hat. Von Dauer ist er nicht. Und, obwohl er kalt ist, wärmt
er. Ich erinnere mich gerade an eine Lyrikanthologie mit dem Titel "Unter
der Wärme des Schnees" (Herausgegeben u.a. von Georg Bydlinski
in der Edition Umbruch im Jahr 1988). In der Tat besteht frisch gefallener
Schnee bis zu 95% aus eingeschlossener Luft und bildet einen guten Wärmeisolator,
der Pflanzen unter der Schneedecke vor Frost schützt. Schnee also
als vielgestaltiges Phänomen, in der Literatur genauso wie auch
in der so genannten real existierenden Wirklichkeit.
Im Gedicht von Jürgen Völkert-Marten geht es nicht um die
Wärme, eher aber um die Schneedecke, die keine Decke des Vergessens
ist, sondern in die Trauer der Erinnerung zurückführt.
Schneefall, Todesfall
Jürgen Völkert-Marten
Schneefall,
Todesfall
Immer diese Erwartung
Dinge erklären zu können
Es schneit unerwartet heftig
und heftig kehrt Trauer
um Verlorenes zurück
Erklärungen halten nicht stand
wenn die Seele nachfragt
Warum also suchen
nach Sinn Logik Irgendwas
Die gequälte Natur lacht
uns mit längerem Atem aus
Die japanische Dichterin Hiromi Ito macht den Schnee
zum Thema eines Gedichtes über das Schicksal. Es kann einer dabei
Angst und Bang werden, ganz ohne Blut, das den Schnee rot färbt,
wenn es zwischen den behaarten Zehen hervortritt. Weil das Schicksal
manchmal Schnurgerad ist und man es lesen kann, wenn man seinen Spuren
folgt, manchmal in der Ferne und manchmal ganz nah, während man
wunderschön schreibt: „Ich will es zeigen".
Schnee Hiromi Ito
Schnee
Als ich den Fußspuren
mit den Augen in die Ferne folgte
begriff ich, es hatte einen Hasen erwischt
Die schnurgerade Spur war der Fuchs, sagte man
hoppelpop, hoppelpop, die Spur der Hase
Schnurgerad und Hoppelpop vermischten sich
und gingen in ein Schnurgerad über
Blut fand sich keins
Hoppelpop wehrte sich nicht einmal
Ich bin barfuß
Schuhe und Strümpfe zog ich aus
bin dort ganz entblößt
Du siehst es
Als ich Schuhe und Strümpfe auszog
kamen auf meinen Zehen Haare zum Vorschein
Blut trat zwischen den Zehen hervor
Du siehst auch das
Ich schreibe
Du siehst auch das
Ich will es zeigen
denke ich
Auch du schreibst
Ich sehe es
Wie wunderschön dieser Mann schreibt
Wie wunderschön
der Mann, die Männer, die Frauen
Du hörst zu schreiben auf und steckst es ein
Mir willst du es wohl nicht zeigen
Du ziehst deine Schuhe an
und gehst hinaus über das schneebedeckte Feld
Ich bleibe hier zurück
Wenn Hoppelpop über das Schneefeld geht
ereilt es das Schicksal Schnurgerad
das geschieht gewiß, wenn die Dämmerung einsetzt
am Morgen
(Das Gedicht von Hiromi Ito stammt aus ihrem Buch
"Mutter töten", das 1993 im Residenz Verlag erschienen
ist. Übersetzung von Irmela Hijiya Kirschnereit.)