Kapitel 63: Das Glück im Schlafe 1


In den letzten Jahren beschäftigt mich gelegentlich - logischerweise vor allem des Nachts, das Fernbleiben des Schlafes. Es ist unvorstellbar, welche Menge - oder sollte ich besser sagen welche Unmenge - an Gedanken sich einstellt, wenn ich die Augen schließe und von der Welt meine Ruhe haben will. Und nicht nur das! Manchmal wache ich im Morgengrauen auf und schon, schwupps, ist ein Gedanke da, der mich am wieder Einschlafen hindern will! Ich erinnere mich, dass ich mir in Kinderjahren vorstellte, dass unter meinem Bett ein Krokodil liegt. Das Krokodil war dabei einerseits eine Art Hüter meines Schlafes, andererseits ängstigte es mich aber auch, man wusste ja nie, ob es ihm nicht einfiel, nach meinen Zehen zu schnappen, sollte ich ein Bein aus dem Kinderbettchen hängen lassen. Im Vergleich dazu ist das Stachelschwein im Gedicht von Fred Endrikat zwar auch wehrhaft, aber seine Funktion ist klar: Es behütet das schlafende Babystachelschweinchen.

Stachelschweinchens Abendgebet

Müde bin ich, geh zur Ruh
schließ dieSchweineäuglein zu
Über meinem Bettchen klein
wacht das Mutterstachelschwein.
Kommt ein Feind und will mich heischen
wird sie ihn zerstachelschweinefleischen
Niemand stört mich in meiner Ruh
jede Nacht bis morgen in der Fruh.

(Das Gedicht von Fred Endrikat steht im Buch "Deutsche Unsinnspoesie", das Klaus Peter Dencker herausgegeben hat.)

Das Nicht-Schlafen können hat möglicherweise etwas mit meinem fortgeschrittenen Alter zu tun. Obwohl: "Eigentlich" bin ich noch zu jung für so etwas wie eine senile Bettflucht. Oder nicht? Das Senium, deutsch "Greisenalter", wird in der Wikipedia mit der Zeit zwischen dem 60sten und 80sten Lebensjahr angesiedelt. Ohje.
Das folgende Gedicht stammt von Wislawa Szymborska. Ich habe es dem Sammelband "Jünger werden mit den Jahren. Gedichte vom Älterwerden." entnommen. Es thematisiert die Flucht des Schlafes in der Mitte der Nacht.

Vier Uhr am Morgen

Die Stunde von Nacht zu Tag.
Die Stunde von einer Seite auf die andere.
Die Stunde, die sich auf das Krähen der Hähne vobereitet.

Die Stunde der Dreißigjährigen, fiebrig.
Die Stunde, da die Erde uns verleugnet im Entfernen.
Die Stunde des Windes von verloschenen Sternen.
Die Stunde Bleibt-denn-von-uns nichts-mehr-übrig.

Die hohle Stunde.
Die taube, beschimpfte.
Aller anderen Stunden letzte Tiefe.

Um vier Uhr am Morgen gehts niemandem gut.
Gehts den Ameisen gut um vier Uhr am Morgen
- sie seien beglückwünscht. Dann komme die fünfte,
sofern wir noch weiterleben sollen.

Schließen möchte ich dieses Kapitel mit einem Zitat von Undine Gruenter. Es stammt aus dem Buch "Das Versteck des Minotaurus", das ich mit großem Interesse gelesen habe. Das Zitat benennt eine ganz bestimmte Furcht vor dem Schlaf, nämlich jene, ein Stück Identität zu verlieren, ein Stück Kontinuität im Leben, ein Stück des Zusammenhangs, der mir zum Beispiel die Sicherheit gibt, dass ich am Morgen als dieselbe Ilse aufwache, als die ich am Abend eingeschlafen bin, in demselben Zimmer, mit demselben Fritz neben mir und mit denselben Leidenschaften und Vorlieben. Undine Gruenter schreibt: Nachts zieht eine Stimme den Schlafenden das Herz aus dem Leib und sie verbringen, um es wiederzufinden, ihr Leben.

Ja, das Schlafen ist gewissermaßen ein eigenes Revier. Der Körper macht was er will, die Kontrolle hat sich verabschiedet: Gerade erinnere ich an meine 24 Stunden Blutdruckmessung und an mein 24 Stunden EKG, es waren unruhige Schlafstunden.
Allerdings müssen wir im Schlaf keine Erwartungen erfüllen und können uns im Land der Träume bewegen. Deswegen stelle ich an den Abschluss dieses Textes nun noch ein kurzes Gedicht des koreanischen Dichters Ko Un. Den Titel "Am Fenster" verstehe ich als Fenster der Wahrnehmung, das gelegentlich und unter anderem in den Momenten des Einschlafens und Aufwachens erhöhte Aufmerksamkeit verlangt. Das Gedicht von Ko Un stammt aus dem Buch "Beim Erwachen aus dem Schlaf" und wurde von Kim Miy-He und Sylvia Bräsel aus dem Koreanischen ins Deutsche übersetzt.

Am Fenster

Was bleibt mir an Wünschen?

Die Ferne.
Die Nähe.