Ich beginne dieses Kapitel mit einem
Aberwenn-Gedicht. Es stammt von Shel Silverstein und ich glaube, es
bringt eine Erfahrung zur Sprache, die den meisten Menschen wohlbekannt
ist. Es bringt diese Erfahrung mit einem Augenzwinkern zur Sprache.
Ich liebe das Augenzwinkern dieses Gedichts, das den Aberwenns ein bisschen
von ihrer Schärfe nimmt. Denn die Aberwenns können sehr scharf
sein und Angsthasen wie mir rutscht dann das Herz in die Hose. Wenn
das Herz in die Hose rutscht, tut es gut, mit den Augen zu zwinkern,
zu pfeifen oder das folgende Gedicht von Shel Silverstein laut zu lesen.
Wer übrigens aufmerksam gelesen hat, erinnert sich vielleicht,
dass dieses Gedicht schon in Kapitel 21 vorkommt. Ich liebe es sehr,
dieses Gedicht!
Shel Silverstein: Aberwenn
Gestern nacht, als ich vor
dem Einschlafen noch ein bisschen fror,
Krochen mir ein paar Aberwenns ins Ohr,
Tanzten und scherzten, mal laut mal leise,
Und sangen die uralte Aberwenn-Weise:
Aberwenn ich in der Schule nichts weiß und alle lachen?
Aberwenn sie das Schwimmbad dichtmachen?
Aberwenn er mich verhaut, der Stärkste der Klasse?
Aberwenn mir jemand Gift tut in meine Tasse?
Aberwenn ich weinen muss?
Aberwenn ich krank werde und - paff - Exitus?
Aberwenn ich sitzenbleibe?
Aberwenn ich grüne Haare krieg am ganzen Leibe?
Aberwenn mich niemand mehr mag?
Aberwenn mich der Blitz trifft und ich krieg einen Schlag?
Aberwenn ich so klein bleibe, wie ich bin?
Aberwenn mein Kopf nicht nur klein bleibt, sondern schrumpft sogar noch
vor sich hin?
Aberwenn die Fische nicht beißen?
Aberwenn Sturmböen meinen Drachen zerreißen?
Aberwenn es zum Krieg kommt und zum Aufstand der Massen?
Aberwenn meine Eltern sich scheiden lassen?
Aberwenn der Bus Verspätung hat?
Aberwenn meine Zähne krumm wachsen statt grad?
Aberwenn ich mir die Hose zerreiße?
Aberwenn ich nie richtig tanzen lerne? Schöne Scheiße.
Alles scheint ganz prima zu sein, und im Nu
Schlagen die nächtlichen Aberwenns wieder zu.
Es ist angenehmer, zu schlafen, als sich mit den
nächtlichen Aberwenns zu plagen, zumal es gar nicht so leicht ist,
beim Einschlafenwollen mit den Augen zu zwinkern oder zu pfeifen.
Im Schlaf kann das Glück gelingen, und dies kann uns ermutigen,
es auch im Wachen zu (ver)suchen. Ja, ich glaube, man muss Glück
haben, um das Glück zu finden und überhaupt ist das mit dem
Glück eine schwierige Sache, aber, soviel ist klar, es gibt gesellschaftliche
Rahmenbedingungen, die es dem Glück leichter machen, sich finden
zu lassen, zum Beispiel gute Arbeitsbedingungen, Wasser, das man trinken
kann und, falls man krank wird, eine gute medizinische Versorgung. Und,
natürlich, all das nicht nur für eine selber, sondern für
alle Menschen. Das ist ein Stück Utopie, ich möchte es nicht
in Vergessenheit geraten lassen.
Mit dem Schlaf geht es mir so, wie es Oskar Pastior in seinem Gedicht
"Über meinen Schlaf" beschreibt. Dieses Gedicht steht
im Buch "Das Unding an sich". Ich zwinkere beim Lesen dieses
Gedichtes nicht mit den Augen, sondern senke den Kopf, nachdenklich
und ein bisschen sehnsüchtig blicke ich zurück in die Zeit
des "Früher", von der Oskar Pastior in der ersten Gedichtzeile
spricht.
Oskar Pastior: Über meinen
Schlaf
Früher, wenn ich einschlief,
kam der Schlaf. Heute,
wenn der Schlaf kommt, schlafe ich schon tief. Der
Schlaf kam damals später, jetzt schlafe ich früher
ein. Wenn ich tief schlafe,
kommt es vor, daß der
Schlaf, wenn er dann kommt, mich noch einmal weckt,
bevor ich weiter tief schlafe. Früher war das so:
ich schlief, und der Schlaf
kam. Bloß wenn ich auf-
wachte, war er wieder fort – ein unruhiger Gast.
Jetzt kommt und geht er etwas ruhiger, während ich
schlafe, und manchmal ist
er plötzlich da, wenn ich
wach bin. Dann wache ich auf und sehe, daß er da
ist. es geht mir der Schlaf durch den Kopf, auch
jetzt, ich kann nicht einschlafen,
bevor er geht:
dann muß er wohl kommen. So ist es jetzt anders wie
früher. Er kommt und geht, ich bin wach und ich
schlafe. Manches geht mir
durch den Kopf, der im
Unterschied zu früher dem Schlaf immer unähnlicher
wird: auch er kommt und geht, auch er weckt mich
hin und wieder, während
ich denkend ihn schlafen se-
he, bevor der Schlaf kommt, diese beunruhigende Ru-
he, die keinen Schlaf kennt, auch wenn ich wach bin.
Abschließen möchte ich das Kapitel mit
einem Gedicht von Patricia Brooks. Ich mag dieses Gedicht, und ich spitze
die Ohren, um zu hören, wie in seiner Nacht die Zeit verrinnt.
Ich denke an dunkle, klare Frostnächte, und daran, dass der Schriftsteller
Lawrence Ferlinghetti in einem seiner Bücher "Piblokto"
erwähnt, den "Irrsinn der langen dunklen Winternacht".
Piblokto ist laut Wikipedia eine Verhaltensstörung, die bei Menschen,
die um den Polarkreis oder nördlich davon leben, auftritt. Vielleicht
hört man im hohen Norden das Verrinnen der Zeit eindringlicher?
Tickt eine Uhr am Äquator langsamer als am Nordpol? Kann sein.
Kommt wohl auf den Standpunkt der Betrachterin an.
Nun aber zum angekündigten Gedicht.
Patricia Brooks:
White Frost
sagt der Kapitän:
in klaren, windstillen Nächten
höre ich die Zeit verrinnen
Oh, sage ich, und nochmals: oh, und: In meinen klaren
Nächten versuche ich, die Erbsen des Glücks zu zählen,
solange, bis der Schlaf kommt.