Kapitel 65: Schafe


In vielen Gedichten, die ich lese, spielen Tiere, die keine Menschen sind, eine Rolle. Es ist nicht immer eine Hauptrolle und es sind ganz verschiedene Tiere, mit ganz verschiedenen Schwerpunkten und sie spielen sehr unterschiedliche Rollen. Das Schaf aber ist in gewisser Weise eine Besonderheit, nämlich vom Wort Schaf ausgehend versteckt sich das Schaf ja auch in Worten wie Botschaft oder Leidenschaft, in Freundschaft und im Schaffensdrang. Um diese äußerst zahlreichen Schafe soll es aber heute nicht gehen, obwohl auch sie durchaus einige Überlegungen wert wären.

Heute beginne ich mit einem Schafgedicht aus dem Zyklus "Schaf hoch Schaf hoch" von Karin Fellner. Der Zyklus befindet sich in ihrem Gedichtband "eins: zum andern", der in der Parasitenpresse erschienen ist und den ich hiemit auch herzlich zur Lektüre empfehle, wie übrigens alle in diesen meinen Aufzeichnungen zum Gedichtelesen erwähnten Bücher.

Karin Fellner

Von unten wuchern Motoren über die Herden, Halden,
"die machen das Wetter weiß."

Einst krochen wir Wirbeltiere aus dem Wetter, sagt Schaf,
und rissen auseinander in Arten, Unarten, drum
die nahe Verwandtschaft von Wollen und Wolken.

Zu ihrem Behuf erstellen Zucht- und Ordnungsämter
Vitrinen für Knochen, z.B. für den Daumen von Darwin,
Missing Link zu FOMO.

Stehend oder hängend ist diese Welt, sagt Schaf,
ein Grashang, unbegradigt, voll der Gnagnagnade.

In den Gedichten von Karin Fellner kommen übrigens nicht nur Schafe vor, sondern auch zum Beispiel Stockenten und Kühe. In gewisser Weise sind es Naturgedichte, man kann vielleicht sagen, dass sie die Natur transformieren, und sich ihr zugleich sprachlich widersetzen, vielleicht dabei auch mit den Augen zwinkern. Das sprechende Schaf, das Wolle und Wolken verbindet, erinnert uns an Darwin und an die Entstehung der Arten, und, bei aller schaflichen Weisheit fokussiert es auf den Grashang. Das Schaf ist ein sympathisches Tier und seine Mähmähmählichkeit bremst vielleicht unsere FOMO, unsere "Fear Of Missing Out" (dt.: Angst, etwas zu verpassen).

Das blökende Schaf tritt auch in einem Gedicht von Hans Eichhorn auf. Es ist veröffentlich im X-Blatt Nummer 1, einer kleinen Anthologie mit Gedichten verschiedener Autornienn. Autornienn? Ann Cotten verwendet in einigen Passagen ihrer Werke dieses, das sogenannte "polnische Gendering", indem sie alle für alle Geschlechter notwendigen Buchstaben am Wortende zusammenfügt. Hat was, oder? Jedenfalls eine Variante des Genderns mehr und, wie ich finde, kann es durchaus viele Varianten des Genderns geben, die überdies je nach Bedarf und Bedürfnis vermischbar sind.
Das Besondere am X-Blatt ist seine Verfügbarkeit in einem so genannten Textautomaten in Linz im Café Extrablatt. Bei Textautomaten denke ich jetzt an den Verlag SuKuLTuR, der ein vergleichbares Projekt 2003 in Deutschland startete und dem es dereinst gelang, verschiedene Automatenbetreiberfirmen dazu zu gewinnen. Auch ich, Ilse Kilic durfte gemeinsam mit Fritz Widhalm ein Heft dieser Reihe mit dem Titel "Schöner Lesen" gestalten, es hieß "Im Bann der Kurvenbar".
Aus diesem X-Blatt zitiere ich nun das Gedicht von Hans Eichhorn. Hans Eichhorn ist ein Dichter, den ich sehr schätze. Er kommt auch im Kapitel 51 dieser Reflexionen über das Gedichtelesen vor.

Hans Eichhorn

Das ist der Luxus, hier zu sitzen,
nicht auf der Flucht zu sein, das

Schafgeblöke zu hören, die Zwie-
sprache haltenden Vogelstimmen.

Die Wasserfarbe aufzusagen samt
den Licht/Schatten/Wellen. Es ist

nie zu Ende gesagt, immer nur
am Anfang, bis zum Schluss.

Die Schafe blöken. Und wir können zuhören. Unsere Ohren zu öffnen ist ein Luxus, den wir uns gönnen sollten, nicht nur, aber auch, wenn wir Schafen begegnen.
Ein Schafkapitel wäre aber unvollständig, wenn wir nicht auch daran denken würden, dass das Schafezählen ein Mittel zum Einschlafen ist, oder, besser gesagt, sein soll. Ein Lied des Fröhlichen Wohnzimmers über das Einschlafen mit und ohne Schaf ist auf youtube zu sehen.

Und ja, zuguterletzt gibt es auch das Schaf, das gar kein Schaf ist. Es lebt in einem Gedicht von Christian Morgenstern mit dem Titel "Das Geierlamm" (Dieses und andere Gedichte von Christian Morgenstern kann man übrigens auch im Projekt Gutenberg.de im Internet finden).

Christian Morgenstern

Das Geierlamm

Der Lämmergeier ist bekannt,
das Geierlamm erst hier genannt.

Der Geier, der ist offenkundig,
das Lamm hingegen untergrundig.

Es sagt nicht hu, es sagt nicht mäh
und frißt dich auf aus nächster Näh.

Und dreht das Auge dann zum Herrn.
Und alle habens herzlich gern.