Kapitel 68: Die Zeit vergeht, die Erde dreht sich, Schnee fällt


Ich beginne dieses Kapitel mit einem Gedicht von Sina Klein. Es steht in ihrem Lyrikband "Skaphander". Auf diesen Lyrikband wurde ich zunächst durch den Titel aufmerksam. Es war Zufall, aber das seltene Wort Skaphander war mir bekannt, und zwar in seiner veralteten Bedeutung für Tauchanzug. Einen solchen hatten wir, mein Gefährte, der Dichter Fritz Widhalm, und ich in einem Museum in Cuxhaven gesehen. Wir hatten unsere Köpfe in den Helm dieses Skaphanders gesteckt und uns die Waghalsigkeit und Schwierigkeiten vor Augen geführt, die das Tauchen mit diesem schwergewichtigen und sperrigen Anzug in der Kälte, im tiefen und dunklen Wasser mit sich bringen musste.
Das Wort Skaphander bezeichnet aber, wie ich mittlerweile weiß, nicht nur den Tauchanzug, sondern generell einen Schutzanzug gegen extremen Über- oder Unterdruck, wie er zum Beispiel auch bei der Bewegung im Weltall besteht. Druck und Gegendruck, Isolation und Abkapselung sind jedenfalls ebenso Themen des Lyrikbandes von Sina Klein wie Kälte, Isolation und Verzerrung der Wahrnehmung. Niemand muss die Jahre ansehen, während sie vergehen. Sie tun es "ganz von allein."

27 (die jahre)

ich sah die jahre nicht mal an, doch sie und ich,
zusammen waren wir wie schnee, der sich
den winter über / legte auf den andern,
überlagernd, schwer in seiner art und irgendwie
so arm in arm, als könnte das, was kalt im kern,
als könnte es sich gegenseitig wärmen.

Wenn ich an den Begriff des Zeitvergehens denke, fällt mir ein Haiku ein, das ich einmal geschrieben habe, und das davon lebt, dass man es richtig betont oder sich beim Lesen die richtige Betonung vorstellt. Es spricht nicht vom Vergehen, sondern vom Gehen und während man in der zweiten Zeile das Wort Zeit betont, liegt die Betonung in der dritten Zeile auf dem Wort geht. Ich glaube, das Haiku ist in einer Nummer von Gerhard Jaschkes Zeitung Freibord veröffentlicht und es geht so.

Das ist ein Haiku:
Auch wer nicht mit der Zeit geht,
geht mit der Zeit. Punkt.

Ich habe lange überlegt, ob ich an der Siebzehnsilbigkeit festhalten muss, will oder sollte. Diese ist zwar ein Merkmal des Haikus, jedoch ist der Begriff Silbe erstens nicht vergleichbar mit einer japanischen Lauteinheit (laut Wikipedia entsprechen 17 japanische Lauteinheiten etwa dem Informationsgehalt von 10-14 deutschen Silben), zweitens aber ist das Silbenzählen vielleicht nicht der vordringlichste Aspekt beim Schreiben eines Haikus. Zugleich finde ich Silbenzählen schon eine sympathische und irgendwie auch kontemplative Tätigkeit, die der Idee des Haikus durchaus entspricht; also, ich habe mich entschieden, die dritte Zeile durch das Wort "Punkt" fünfsilbig zu machen, zumal mein Haiku ja auch auf die dem Haiku traditionell eigene "Offenheit" verzichtet und mit dem Punkt eindeutig einen Schlusspunkt setzt.

Das nächste und letzte Gedicht, das ich in diesem Kapitel vorstelle, stammt von der Dichterin melamar. Es handelt von einer Windmühle und ruft den vergeblichen Kampf des Don Quijote gegen jene in Erinnerung. Das Gedicht handelt aber nicht von Don Quijote sondern von Doña Quijote und ihrer Strategie, den Kämpfen gegen Windmühlen zu entsagen. Vielleicht ist auch die Zeit eine Windmühle? Tee ist jedenfalls in vieler Hinsicht ein Lebens-Mittel. Ich bin nicht sicher, ob Plaudern zum Teetrinken dazu gehört, aber, sagen wir so: Das Plaudern bringt die Dinge manchmal dazu, sich als das zu zeigen, was sie auch sind. Und Doña Quijote, die Teetrinkende, hat vielleicht den Blick, dies zu erkennen. Das Gedicht Doña Quijote steht in melamars Gedichtband "Poetisiaka".

doña quijote

doña quijote
kämpft nicht gegen
windmühlen

sie zieht es vor
mit ihnen
tee zu trinken und
freundlich
zu plaudern

Zu diesem Gedicht von melamar habe ich einen kleinen Gedichtfilm gemacht. Er lief in Okto TV in der Wohnzimmerfilmrevue am 6. Jänner 2020 und kann im Archiv von okto.tv in der betreffenden Wohnzimmerfilmrevue Nummer 163 angesehen werden.