Kapitel 73: Unter dem Himmel


Das Kapitel 73 schließt mehr oder weniger an das Kapitel 71 an. Dieses endet nämlich mit drei Verszeilen von E.T. Hulme, in denen sich die Vorstellung findet, dass der von Sternen durchlöcherte Himmel eine Art Decke ist, in die ein Mensch sich einwickeln kann. Die drei zitierten Zeilen stammen aus Hulmes Werk "The Embankment". Nun das ganze Gedicht, das von einem obdachlosen "fallen Gentleman" handelt.

The Embankment
(The fantasia of a fallen gentleman on a cold, bitter night)

Once, in finesse of fiddles found I ecstasy,
In a flash of gold heels on the hard pavement.
Now see I
That warmth’s the very stuff of poesy.
Oh, God, make small
The old star-eaten blanket of the sky,
That I may fold it round me and in comfort lie.


Das "Londoner Embankment" war ein bekannter Platz am Londoner Ufer, bekannt dafür, dass dort obdachlose Menschen die Nacht verbrachten. Und vielleicht hofften sie alle, dass der Himmel sie wärmen möge. Dass der Himmel sich klein machen würde und sich wie eine wärmende Decke auf sie senken möge. Wobei es sich wohl nicht immer um "gefallene Herren" handelte, die sich dort nach Wärme sehnten.

Ich habe in einem Buch über die "Vagabunden" die Dichterin Jo Mihaly entdeckt. Ihre "Ballade vom Elend" erschien 1929 im Verlag der Vagabunden in Stuttgart. Die Bewegung der Vagabunden und ihre - auch politischen - Ziele will ich an dieser Stelle nur kurz erwähnen und allen weiter Interessierten das Buch "Künstler, Kunden, Vagabunden" ans Herz legen. Es erschien im C.W. Leske Verlag und darin befindet sich auch ein Faksimile des Werkes von Jo Mihaly. Auch der Comic von Bea Davies und Patrick Spät: "Der König der Vagabunden. Gregog Gog und seine Bruderschaft", avant verlag 2019, sei in diesem Kontext empfohlen.
Wie auch immer: Die Bewegung der Vagabunden, damals auch Kunden genannt, versuchte, für die sich ohne fixen Wohnsitz durch die Lande ziehenden Menschen Rechte und Unterstützung zu erwirken. Die Vagabondage erschien in diesem Kontext als Überzeugung, nicht allein der Armut geschuldet, wenngleich aus den Schriften die Notlagen oft erdrückend sichtbar sind.
Jo Mihaly ist 1902 geboren und war Tänzerin und Dichterin. In der Weimarer Republik führte sie ein Vagantenleben und bündelte ihre Erfahrungen in der Ballade vom Elend. Politisch engagierte sie sich besonders für die Rechte der Sinti und Roma. Jo Mihaly starb 1989. Einen Auszug aus dieser Ballade vom Elend möchte ich nun hier wiedergeben. Die Ballade handelt von zwei Männern, die miteinander eine Gefängniszelle teilen.

I
Sie "saßen" beide... Waren beide in Not.
Was heißt Not?
Sie hatten nur etwas weniger Sonne
als sonst: Brot
hatten sie auch und Wasser genug,
um ihren Durst zu stillen;
hatten auch ihren guten Willen,
es nicht kalt und zum kotzen zu finden.

Der Dünne war krank.
Der Doktor sagte, er hätte ein krankes Herz.
Und manchmal fühlte er: da saß ein Schmerz
und fraß und fraß, bis ihm übel wurde.
Aber er achtete nicht darauf.
Und der Dicke rückte sacht in den Schatten,
daß sich der Kleine am matten
Sonnenstreifen den Rücken wärme.

Dann sprachen sie manchmal.
Wie es so kommt: vom Handwerk
und von der Straße, der lieben,
und wo sie im Winter geblieben,
wenn nicht der Gendarm… na alte Geschichten!
Man hatte sich nach dem Umstand zu richten,
daß man krank und freiheitsberaubt war.

(…)

IV
"Hast du schon einmal nachgedacht",
begann der Dicke in einer Nacht,
als sie vor Flöhen nicht schlafen konnten,
"warum die Gefängnishöfe nie
wie andere Höfe Bäume haben?
Man soll sich nicht laben
an einem Strauch oder grünen Blatt;
die Augen werden matt mit der Zeit,
und das bißchen Himmel bekommt man auch kaum zu sehn,
seit wir nicht mehr die Runde gehen,
sondern im Hof kniebeugen müssen.
Ich möchte wissen,
was so ein Baum Gefährliches hat?
Oder fürchten die Herrn vom Gericht,
wir warteten auf das Urteil nicht,
sondern ersparten ihnen die Last
und hingen uns selber an den Ast?

Du Kleiner - lach mal!... Was hast du gesagt?
Verdammt hier sind Ratten!"

Und wer nun neugierig auf die Dichterin Jo Mihaly geworden ist: Ihr Roman "Auch wenn es Nacht ist" ist in der Edition Memoria, Hürth 2002 erschienen.
Auf jeden Fall sehenswert ist der Film: "Die Geschichte des Ausdruckstanzes". Tolle Tänzerinnen, interessante Interviews und ein Zeitdokument. Naja und unter anderem kann man auch Jo Mihaly tanzen sehen: https://www.youtube.com/watch?v=ZoW3GIshuZQ.