Kapitel 74: Schönheit, Libelle und Sträuben


Ich beginne dieses Kapitel mit einem Zitat von Kim Thúy: "Ich mache ständig Fehler; der bis heute erstaunlichste war, dass ich dachte, das Wort rebelle (rebellisch) sei von belle (schön) abgeleitet: Für mich hieß rebelle: "wieder schön", weil man Schönheit ja erwerben und verlieren kann. Mama hatte mir oft eingeschärft, es sei besser, einen Streit abzubrechen, als jemanden zu beschimpfen, selbst wenn sich herausstellen sollte, dass der andere Unrecht hat. Wenn wir nämlich andere mit Dreck bespritzen, beschmutzen wir unseren Mund, weil wir ihn erst mit Zorn, Blut und Galle füllen müssen. Dann sind wir nicht mehr schön. Ich glaubte also, dass das re in rebelle die Möglichkeit einer Erlösung bot, weil es uns erlaubte, die frühere Schönheit wiederzuerlangen."

Auf die Autorin Kim Thúy bin ich durch das neue Buch von Klaus Theweleit, dem vierten Band aus der Pocahontas Serie, aufmerksam geworden. In der Fußnote zu Seite 386 wird aus einem Gespräch mit der Autorin zitiert. Es geht dabei um die Möglichkeit, von sich selbst zu sprechen. Es sei, so sagt Kim Thúy, im Vietnamesischen nicht möglich "Ich liebe dich" zu sagen. Kim Thúy: "Man kann die vietnamesische Umschreibung frei übersetzen mit: Es liegt Liebe in der Luft." Und ich dachte, ich möchte etwas von dieser Autorin lesen.

Ob Rebellion zwingend mit einer Rückgewinnung von Schönheit verbunden ist, weiß ich nicht, leider aber weiß ich darüber Bescheid, dass dem Wort auch ein Stück Krieg innewohnt. Nunja. Irgendwie irritierend, wie nah die beiden Worte bellum (= Krieg) und bellus (= schön) klanglich beisammenliegen.
Tja. Auch die Rebellion muss sich in Acht nehmen. Sollte sie freundlich sein? Freundlichkeit gefällt mir.
Ich möchte ein Freundl-Ich sein.
Gelegentlich sogar ein Herzl-Ich.

Ein Mütterl-Ich bin ich bereits, wie ich in meinem soeben erschienenen Lyrikband "Die Nacht ist dunkel, damit die Sterne sich zeigen" (edition zzoo 2020) beschrieben habe. Ja, ein Mütterl-Ich und ein Fürchterl-Ich und auch noch einige andere Iche.

Und die LiBelle?
Warum heißt sie, wie sie heißt?

Ich habe ihr im Jahr 2014 einen kleinen Fünfzeiler gewidmet:

am teich

es schwirrt die libelle,
die auf englisch dragonfly heißt.
drachenfliege also.
der name ist so schön wie die libelle
nicht nur im gedicht.

Der Ursprung des Namens "Libelle" war lange Zeit ungeklärt. Eingeführt wurde der Name von Carl von Linné, der die Gruppe als "Libellula" bezeichnete, ohne dies näher zu erläutern. Die tatsächliche Quelle des Namens wurde erst in den 1950er Jahren entdeckt. Angeblich bezieht sich der Name auf das Werkzeug Libelle. Eine Libella ist eine kleine Waage, oft ist aber mit der "Libelle" die Luftblase gemeint, die sich in einer Wasserwaage befindet. Auch das Wort "Level", ja sogar das Wort Niveau könnten mit der Libella zusammenhängen. Ob nun die optische Ähnlichkeit mit der Waage ausschlaggebend war oder ob diese Ähnlichkeit (auch) darin bestand, dass die Libelle ihre Flügel waagrecht ausspannt, sei an dieser Stelle dahingestellt. Im nun folgenden Gedicht von Birgit Schwaner geht es um die Kunst und die Fähigkeit, sich zu sträuben. Es stammt aus dem 2018 im Fröhlichen Wohnzimmer erschienenen Sammelband: "Die Kunst, sich in 26 Richtungen gleichzeitig zu sträuben". Die 26 Richtungen nehmen Bezug auf die Tatsache, dass das Alphabeth, in dem wir schreiben, 26 Buchstaben hat. Wir können also für unsere Sträubungen diese sechsundzwanzig Buchstaben verwenden. Natürlich ergeben sich daraus mehr als 26 Richtungen, hier hat sich in den Titel der wohnzimmeristischen Anthologie eine kleine, oder besser gesagt eine große Ungenauigkeit eingeschlichen. Es genügt jedenfalls aber nie und nimmer, sich in eine einzige Richtung zu sträuben, nein, zwei, drei, vier, fünf, viele Sträubungen können und sollen ausprobiert werden, immer wieder von neuem. Das Sträuben ist niemals endgültig, sucht und findet immer wieder neue Richtungen und Möglichkeiten. Vielleicht hat es gelegentlich etwas mit "streben" zu tun, vielleicht auch mit "räuberisch" sein. Klang- und Buchstabenverwandtschaften sind keine stichhaltigen Beweise, nur kleine Anregungen. Und auch das Sträuben selbst ist nur eine Anregung, eine Idee, die Haare aufzustellen, ob es nun die kleinen zarten Nackenhärchen sind oder ob der ganze Körper sich mit der berühmt-berüchtigten Gänsehaut überzieht. Hier das Gedicht von Birgit Schwaner:

Sträublingins Bann (old school)

So sträub ich mich, Gesträuch und Dorngestrüpp
sträubt Sprache sich in mir, und draußen:
Seeigel-Schalen wünscht ich jedem Wort, das hohlfrisiert
aus gier’gen Mündern schlüpft (was Weiches nie berührt):
Soll jedes unredliche seine Sprecher stechen, und jedes
hetzende den Hetzern wie ein Schmerz die Zung
verbrennen, soll’s den Lügnern, den Freiheitsräubern,
Elendbringern dieser Tage, den schamlosen Verächtern
jeder Armut und jedes Menschen Recht, soll’s ihnen doch
die kreideweißen Zähne bis auf den Nerv zerkratzen
und verweigern – Buchstab für Buchstab: Wirrnis,
Stachel - Komplizenschaft, all denen, die ich nenne:

(Namen einsetzen)

Übrigens: Von Birgit Schwaner ist soeben ein Gedichtband erschienen (Podium Portraitband 108), für den ich das Vorwort verfasst habe. "Gedichte sind kleine Störungen, die die Botschaft sind. Wie schön, Botschaft zu sein. Wie schön, Störung zu sein", heißt es darin. Ja, sage ich an dieser Stelle: Gedichte sind absonderlich und süß.