Kapitel 84: Sterne, Staub und ein Touch Melancholie


Ich möchte heute mit einem Gedicht von Renate Meier beginnen. Es steht in der Anthologie "Versnetze 14", in der auch ich mit einem Gedicht vertreten bin.

die nacht ist dunkel, damit die sterne sich zeigen

pechrabenschwarz schien die welt
wir machten ein verzeichnis einiger verluste
führten selbstgespräche mit niemand
träumten vom handbuch für den neustart
der welt und vom ende der einsamkeit

engel in freier wildbahn sollen uns die
unendliche leichtigkeit des seins zurück
geben oder einen bauplan für etwas anderes
unsere gedanken unter den wolken glauben
man könnte sich ins blau verlieben

erwarten die hellen tage

Collage aus Buchtiteln von Ilse Kilic, Renata Adler, Judith Schalansky, Ulrich Koch, Lewis Dartnell,
Benedict Wells, Ludwig Steinherr, Milan Kundera, Judith Hennemann, Philippe Jacottet, Doris Runge, Zsuza Bank.

Und wie man in der Fußnote zum Gedicht von Renate Meier lesen kann, besteht ein Zusammenhang zwischen Ilse Kilic, das bin ich, und dem Gedicht, da es eine Collage aus Buchtitel ist und sich darunter auch einer von Ilse Kilic, das bin ich, befindet. Das muss man als Leserin oder Leser nicht wissen, aber es macht auch nichts, wenn mans weiß. Natürlich habe ich die Autorin gegoogelt, und auch einige Gedichte im Netz gefunden, sogar eines auf Video. Wie sie zu meinem, in nur kleiner Auflage erschienen Gedichtband gekommen war, dessen Titel sie in die Collage einbaut, wird wohl ein Geheimnis bleiben, ich kann mir nicht vorstellen, dass und wo wir einander begegnet sein könnten, es gibt aber Zufälle und auch Bücher in kleiner Auflage können im Prinzip ungeahnt weit reisen. An dieser Stelle ein kleines Winken zu Nikolaus Scheibner. Aber zu ihm (und der Zeitschrift "zeitzoo") kommen wir noch.
Die sozusagen verkehrte Kausalität der dunklen Nacht, die im Titel des Gedichtes von Renate Meier anklingt, stellt die Ordnung der Dinge mit einem Augenzwinkern infrage. Denn in Wirklichkeit, so denkt man als Leserin und als Leser, in Wirklichkeit ist es ja anders. Die Sterne zeigen sich, weil die Nacht dunkel ist, das ist zwar logische Folge, nicht aber Absicht, schon gar nicht Absicht der Nacht, weswegen das "damit" unpassend ist. Als würde man sagen: "Ich weine, damit ich traurig bin" oder "Ich zittere, damit ich mich fürchte". Oder ist das vielleicht gar nicht so falsch, jedenfalls nicht immer?
Als ich so im Netz herumsurfte, um Renate Meier zu begegnen, stieß ich auf ein Zitat von Felicitas Hoppe. Es lautet:
Nur Helden fürchten sich nie, deshalb schreiben sie keine Bücher.
Dieses Zitat passt zu mir, die ich immer sage, dass es ohne Angst keinen Mut gibt. Und es sagt auch, dass es keine Helden gibt. Und auch keine Heldinnen. Weil es vermutlich niemanden gibt, der oder die sich nicht fürchtet. Und es wäre komisch im Sinne von sehr sehr seltsam, sich nicht zu fürchten, da es so manches, ja sogar so vieles gibt, das zu befürchten ist. Ich könnte dem Zitat aber auch einfach widersprechen. Ich könnte sagen: Helden und Heldinnen fürchten sich. Und sie schreiben Bücher. Und Gedichte. Deshalb, deswegen und trotzdem. Und sowieso: Wer braucht Heldinnen und Helden?

An dieser Stelle ein Bild von Nikolaus Scheibner, er ist der Herausgeber der Zeitschrift "Zeitzoo", aus der letzten Nummer des Jahres 2021 stammt dieses Bild. Nikolaus Scheibner ist auch Schriftsteller, Bildermacher und gelegentlich auch Sänger.
Was das Bild nun mit der Angst zu tun haben könnte?

Ganz genau weiß ich das nicht. Aber vielleicht sage ich so: Sich anlehnen ist selten verkehrt, auch wenn Baum und Hand sich auf dem Bild nur mit Vorbehalt nahe kommen. Oder so: An einem Baum zu lehnen wäre eine relativ angenehme Art, in der Gegend zu stehen. Die Sache ist die, dass die Bäume mehr Sauerstoff produzieren, als sie durch ihre eigene Atmung verbrauchen. Einatmen, ausatmen! Sich anlehnen ist eine Möglichkeit, die Angst zu zähmen. Staubwischen natürlich auch. Allerdings muss man dabei husten, wie man am Bild von Fritz Widhalm sehen kann.

Zur Angst, zu den Gedanken unter den Staubwolken, ja, zur liebgewordenen Gewohnheit nun zum Abschluss ein Gedicht von Fritz Widhalm, es stammt aus der Zeitschrift "zeitzoo", wie auch das Bild vom Staubwischen. Für mich schließt sich hier der Kreis, denn Gewohnheiten sind einerseits eben Gewohnheiten, andererseits Anlass für Grübeleien und trügerische Zeitwahrnehmungen.
Und nun das Gedicht von Fritz Widhalm:

von zeit zu zeit

lege ich meinen kopf auf den tisch
von zeit zu zeit
bricht der friede zwischen meinen ohren aus
friede ist kein ohrenschützer
ist man längere zeit mit sich allein
wird man unverlässlich und bruchstückhaft
mein leben verrinnt, wie alle leben verrinnen
ich zwinge mich fortwährend und gnadenlos
meinen mund stets voll zu nehmen
völlig gelassen, ohne getöse
das hören verschwindet von zeit
zu zeit zur gänze
eine lieb gewordene gewohnheit
oder mein gesicht bekommt ein bedürfnis
nach freier bewegung
gewohnheit gewohnheit
von zeit zu zeit
grüble ich vergebens nach einer ursache
von zeit zu zeit

Ich habe mich jetzt gefragt, woher diese seltsame Melancholie kommt, die mich bei diesem Gedicht befällt. Ein bisschen zieht sie sich ja ganz durch dieses Kapitel, vom ersten Gedicht durch die beiden Bilder bis zum letzten Gedicht.

Ich sage: Dunkle Nacht. Angst und Hand. Baum und Staub. Zur Gänze: Gewohnheit Zeit.

Vielleicht ist die Melancholie ein freundlicher Versuch, den Sommer zu erwarten?
(Corona Go Away! Husch husch!)