Kapitel 87: Die Maus, der Elefant, das Schicksal und die Versuchung des Suchens


Ich beginne mit dem Gedicht von Di Lu Galay. Es handelt von einer Maus, die ein Elefant werden will und befindet sich im Buch "Ein Oktopus, aber so viele Handschuhe", das in der parasitenpresse im Jahr 2021 erschienen ist. Die Gedichte des Dichters aus Myanmar, die ursprünglich auf Birmanisch geschrieben wurden, hat Artur Becker ins Deutsche übertragen.

Di Lu Galay

EINE MAUS, DIE SICH IN EINEN ELEFANTEN VERWANDELN WILL
EINE Die Maus hat ein mega Talent.
EINE Sie ist besessen von Motivationstraktaten
EINE zum Thema : "Sein und Werden eines Elefanten".
EINE Die Maus feiert mehr und mehr große Erfolge.
EINE Sie hat allerdings keinen Schlüssel,
EINE denn die einzigen Schlüssel, die im Leben existieren,
EINE sind goldene Schlüssel zum Erfolg.
EINE Und alles, was die Maus tun muss, ist, in eine Geburtstagstorte einzutauchen.
EINE Sie hat bereits ihren Fluchtweg kartiert.
EINE Die Maus ist
EINE ein denkender Elefant.
EINE Die Maus will sich in einen Elefanten verwandeln.
EINE Und wenn sie ein Elefant wird,
EINE wird sie in die Annalen der Nagetiergeschichte eingehen
EINE als die erste Maus, die die Kunst,
EINE sich in einen Elefanten zu verwandeln, entdeckt hat.
EINE Heute sieht die Maus im Trinity Krawattenknoten mega weltmännisch aus.
EINE Regenwolken bilden sich über dem Horizont.
EINE Die Maus begrüßt die Menge: "Guten Abend Euch allen.
EINE Wer unter Euch will kein Elefant sein"?

Der Autor dieses Gedichtes stammt aus Yangon, also aus Myanmar, wo er als Menschenrechtsanwalt lebt. Er organisiert das Online Lyrikfestival "Midnight-poetry Festival".
Um die Sprache birmanisch zu hören, habe ich mir nun auf lyrikline.org einen anderen Dichter als Myanmar angehört, er heißt The Maw Naing und stammt ebenfalls aus Yangon. Unter dem folgenden Link kann man ihn lesen hören und auch die Schrift, nämlich birmanisch sehen. Die Übersetzung ins Englische stammt vom Autor selbst. Seht und hört es Euch an. Es ist interessant, Gedichte aus einer von uns so weit entfernten Welt kennenzulernen.

The Maw Naing

Zurück zu Di Lu Galay und der Maus, die ein Elefant werden will. Natürlich kann es sein, dass ich dieses Gedicht missverstehe, dass Maus und Elefant von ihrer Geschichte her und allem, was sie an Assoziationen auslösen, in Myanmar ganz anders besetzt und codiert sind. Aber ich kann dem Wunsch der Maus, sich in einen Elefant zu werden, durchaus etwas abgewinnen, obwohl ich auch Mäuse mag. Elefanten und Mäuse haben jedenfalls trotz ihrer Unterschiedlichkeit einiges gemeinsam: Sie sind grau, haben gute Ohren und besitzen ein klopfendes Herz, wenngleich das der Maus viel schneller schlägt, nämlich 400 bis 600 mal pro Minute. Mein eigenes Herz ist dem Elefanten näher, was seine Klopfgeschwindigkeit betrifft. Ein Elefantenherz schlägt 20 bis 30 mal pro Minute, das Ilseherz ca. 60 mal.
Warum möchte die Maus wohl ein Elefant werden? Ist es die Größe? Das Gewicht? Will sie gewichtig werden? Ein Vorbild? Ein Beweis, dass das Unmögliche möglich ist? Glaubt sie wirklich, dass alle anderen Lebewesen das auch wollen? Ein Trinity Krawattenknoten sitzt locker und gilt als elegant. Kann er den Träger oder die Trägerin schützen, wenn es sich um eine Maus handelt?
Das Gedicht lässt viel offen. Wir erfahren nichts von der Verwandlung selbst, aber einiges vom Wunsch. Und die Maus tanzt im Gedicht. Ob die Verwandlung eine Mausefalle ist, sein wird, sein könnte, wissen wir nicht. Aber: Es wird regnen. Der Elefant, so es ihn geben wird, wird im Regen stehen.
Ich habe zwei Gedichte im Kopf, die ich diesem Gedicht an die Seite stellen könnte. Eines bezieht sich auf die Schicksalshaftigkeit des Daseins, das zweite auf das Größerwerden als Tier. Ich entscheide mich für das Gedicht zum Schicksal.
Dieses stammt von Veronique Homann und steht in ihrem Gedichtband mit dem Titel "Sid Wischi Waschi", der 2021 in der parasitenpresse erschienen ist. (Ihr seht, ich habe in den letzten Wochen Lyrikbände aus der parasitenpresse gelesen, das kann ich übrigens Euch allen empfehlen!)

Das Gedicht von Veronique Homann geht so:

SCHICKSAL

nein

Serendipität

ja

Jetzt kann ich mir als Leserin natürlich einige Fragen stellen zur Serendipität und ob sie nicht einfach nur eine Variante des Schicksals darstellt. Das Wort Serendipität ist nur annäherungsmäßig übersetzbar, ich beschreibe es jetzt als den glücklichen Zufall, der quasi die positive Seite des Schicksal sein will, aber das erfasst das Prinzip eben nicht ganz. Serendipität bedeutet nämlich auch, dem Zufall durch Forschen auf die Sprünge geholfen zu haben, aufdass er sich als glücklich erweise. Zum Beispiel, um auf die Maus zurückzukommen, indem sie den goldenen Schlüssel sucht und dabei die ersehnte Kunst erlernt, sich in einen Elefanten zu verwandeln. Kann sein. Suchen ist Bedingung. Versuchen vielleicht auch.
"Man sucht ein Leben lang" ist der Titel eines Buches von Magdalena Sadlon, erschienen 1988 im gangan Verlag. Das Buch beherbergt 41 Anagramme, jenes, das dem Buch den Titel gegeben hat, sei hier zitiert.
Zur Erinnerung: Als Anagramm wird eine Buchstabenfolge bezeichnet, die aus einer anderen Buchstabenfolge durch Umstellung der Buchstaben gebildet ist. Bei Magdalena Sadlon bildet die Ursprungszeile den Titel der Gedichte, die folgenden Zeilen werden durch Umstellung der Buchstaben gebildet. Dass dieser Verfahrensweise ein Suchvorgang innewohnt, versteht sich von selbst. Die Scrabble-Buchstaben, mit denen die Autorin ihre Suche unterstützt hat, sind abgebildet. Der Anagrammgenerator, also das automatisierte Anagrammieren, war noch nicht vorhanden. Der erste Anagrammgenerator in deutscher Sprache startete 1996. Auf das Für und Wider der Benützung dieser Anagrammbaumaschine gehe ich an dieser Stelle nicht ein. Ich zitiere lieber gleich das Gedicht.

Magdalena Sadlon

Man sucht ein Leben lang

Eisblumennacht, Langen
nach Lebensmut. Angel in
bleiche Angst nun malen,
ins Bangen. Achtel Lumen.
Nicht Lebenslaunen mag
mein Schlagen, Bluten. An
bunten Naegeln mich als
Beulen langsam nichten.
Sinn, Luegen belacht man.
Man sucht lang ein Leben.