Kapitel 88: Geburtstagsgruß an eine Ilse, die nicht Ilse Kilic ist


Gestern, also am 22.10.2022, feierte Ilse Helbich ihren 99 Geburtstag. Ich liebe ihre Arbeiten sehr. Ich erlebe sie als jemanden, die dem Leben mit Humor und Freude gegenübertritt, wenngleich die Unerbittlichkeit der verstreichenden Zeit natürlich Thema ist. Das Gedicht, das ich zitieren möchte, stammt aus "Frühe Gedichte", die den ersten Teil des Buches "Im Gehen" bilden. Das Buch ist 2017 bei Droschl erschienen.

Hier nun das Gedicht von Ilse Helbich.

September

September, zögernde Rosen, verweile.
Verweile. Der stetig heitere Himmel,
von Schickungen leer.
Das böse Herz schlägt gegen den gläsernen Sarg.

Festhalten, durchkneten, durchkauen:
Sein Kopf über die Lehne rücklings geknickt
Blut aus dem Fressmaul ich werde lachen

Himmel, ausgespannt über die abgeernteten Felder.
Das hungrige Herz drischt die Bläue.
Wie schwer ist es, leicht zu sein.

Persönliche Anmerkung:
Ich kenne drei Dichterinnen, die Ilse heißen. Drei Dichterinnen und eine Journalistin.
Eine der Dichterinnen, Ilse Aichinger und die Journalistin Ilse M. Aschner sind bereits gestorben. Über Ilse M. Aschner, die auch für die Grazer Autorinnen Autorenversammlung und auch für mich, Ilse Kilic, von großer Bedeutung war, kann man hier, nämlich im Onlinearchiv Context XXI nachlesen.

Ilse Aichinger habe ich im Kapitel 39 mit ihrem Gedicht "Durch und durch" zitiert.
Auch sie hat ein hohes Lebensalter erreicht und war als Autorin sehr präsent. Ich bin ihr in der Alten Schmiede begegnet.
Die vierte Autorin mit Vornamen Ilse ist die Autorin Ilse Tielsch, sie ist 1929 geboren, ist also auch bereits in höherem Lebensalter und auch von ihr will ich an dieser Stelle ein Gedicht zitieren:

Auf der Deichkrone stehend bei Flut

Hüte Dich
vor der Idylle
das Meer glänzt silbern
über den sterbenden Fischen

(Aus: Ilse Tielsch: "Zwischenbericht.", Verlag Grasl, Baden bei Wien 1986.)

Die Autorinnen mit Vornamen Ilse sind alle dreißig Jahre älter als ich, oder sie waren etwa dreißig Jahre älter als ich jetzt bin, als sie gestorben sind. Dreien davon bin ich im wirklichen Leben, also in echt, begegnet. Am häufigsten begegnete ich der Journalistin Ilse M. Aschner, da ich mit ihr in der Grazer Autorinnen Autorenversammlung zusammengearbeitet habe, sie war meine erste Chefin. Ich war damals noch ziemlich schüchtern, manchmal fühlte ich mich dumm, manchmal war ichs wohl. Ich konnte mir auch nicht wirklich vorstellen, wie es sich anfühlt, sechzig oder fünfundsechzig Jahre alt zu sein. Heutzutage weiß ich, wie es ist, vierundsechzig Jahre alt zu sein, da ich es bin. Nicht vorstellen kann ich mir, wie es sich anfühlen könnte, vierundneunzig Jahre alt zu sein. Falls ich so alt werde. Mein Vorname wäre vielleicht ein gutes Vorzeichen, wenn ich mir das Alter der mir bekannten und hier erwähnten Ilsen ansehe, aber das ist nur ein kleiner Aberglaube, den ich mir gönne, so wie ein ausgefallenes Hobby.

Es ist eine seltsame Idee, sich selbst dreißig Jahre in die Zukunft zu projizieren. Die Zukunft ist ja eine große Unbekannte, solange sie nicht da ist. Dreißig Jahre sind eine lange Zeit. Sehr lang.

Folgendes nehme ich mir jedenfalls für das nächste Kapitel vor: So wie ich hier Autorinnen zur Sprache gebracht habe, die zirka dreißig Jahre älter sind als ich, werde ich im nächsten Kapitel auf Autorinnen fokussieren, die dreißig Jahre jünger sind als ich. Ich überlege nur, ob ich statt Autorinnen AutorInnen nehmen soll, weil mir eine bestimmte Person vorschwebt, die nunmal keine Autorin ist, aber zu den AutorInnen gehören würde und die bestimmt gut in ein Kapitel passen würde. Ich werde es überdenken.

Dieses Kapitel schließe ich mit einem Gedicht einer katalanischen Dichterin ab.
Montserrat Abelò hat von 1918 bis 2014 gelebt und erfreulicherweise ein recht hohes Lebensalter erreicht. Aber das tut eigentlich nichts zur Sache, nicht eigentlich und eigentlich nicht. Die Stimme von Montserrat Abelò kann man auf lyrikline.org hören, da liest sie ihre Gedichte auf katalanisch. Hörenswert!
Das zitierte Gedicht habe ich dem Band "It's a Woman's World" entnommen, in dem sich Lyrik von Frauen aus aller Welt versammelt.

Montserrat Abelò

HEUTE BRINGT MIR DER NACHMITTAG
milde Freude;
eine Wasserlilie
zahm gleitend
auf der Lagune

Heute liegen die Hände
in meinem Schoß
hübsch zusammengefügt
ohne Bedauern.

Und mein Schlusswort? Ich verfasse es in Prosa.

Heute ist der 25.10.2022. Ich stelle dieses Kapitel fertig, während sich draußen eine partielle Sonnenfinsternis ereignet, die ich nicht beobachte, weil ich keine Schutzbrille habe. Die letzte Sonnenfinsternis, die ich beobachtet habe, war eine totale und es war für kurze Zeit auf seltsame Art dämmrig in dem Teil der Welt, in dem ich mich aufhielt, um eben diese totale Sonnenfinsternis zu beobachten. Das fahle Licht ist mir in deutlicher Erinnerung.
Ist das ein richtiges Schlusswort?
Vielleicht.
Jetzt.
Ja.