Kapitel 89: Etwa 30 Jahre jünger als ich jetzt bin


Im letzten Kapitel habe ich von Ilsen gesprochen, Ilsen, von denen keine Ilse Kilic ist. Es ging um Ilse Helbich, Ilse Aichinger, Ilse Tielsch und Ilse M. Aschner. Von Ilse M. Aschner habe ich nun in der Mediathek ein Interview entdeckt. Es lohnt sich, es anzusehen.
Ich habe im letzten Kapitel angekündigt, an die Präsentation der hochbetagten Schreibenden, die alle so in etwa 30 Jahre älter sind oder waren als ich es jetzt bin, ein Kapitel anzuschließen, das Schreibende präsentiert, die in etwa dreißig Jahre jünger sind als ich es jetzt bin. Und als Abschluss folgt eine kleine Schwindelei.
Eigentlich wollte ich das Kapitel "Allertraurigste Gedichte" nennen und damit auch einem meiner Lieblingsfilme zuwinken, nämlich dem Film "The saddest Music in the World" von Guy Maddin (kennt ihn jemand?). Inhalt: Anlässlich der Auszeichnung der Stadt Winnipeg zur Hauptstadt des Kummers wird von einer Brauereibesitzerin ein Wettbewerb ausgeschrieben, bei dem das traurigste Lied der Welt prämiert werden soll. Sie will damit den Bierkonsum ankurbeln, da traurige Menschen mehr Alkohol trinken.
Dann dachte ich aber, dass ich den Gedichten nicht gerecht werde mit einem solchen Titel und neugierig macht er vielleicht auch niemanden, vielleicht erschrecken sogar manche Leser und Leserinnen. Also: Traurigkeit ist zwar präsent in diesen Gedichten, aber nicht nur.

Ich beginne mit jopa jotakin. Das Gedicht ist sehr kurz und steht in seinem Lyrikband "im darknet sind alle katzen miau", der in der Edition zzoo im Jahr 2020 erschienen ist.

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The requested URL/verteilungsgerechtigkeit was not found on this server.
General Server at gesellschaft.com

Ich glaube, dem ist nichts hinzuzufügen, oder doch?
"Unklar!", würde jopa jotakin vielleicht antworten, das Wort "unklar" habe ich von jopa jotakin oft gehört und mir auch angewöhnt, selbst manchmal "unklar" zu sagen.
Vieles ist unklar, zum Beispiel alles.
Der im Gedicht genannte Server bedarf jedenfalls einer - hm, wie nenne ich es - Generalüberholung? Oder einfach: Ergänzung? Anders gesagt: Verteilungsgerechtigkeit existiert als Wille und Vorstellung. Das ist gut. Aber noch etwas dürftig. Die Zukunft der real existierenden Wirklichkeit bleibt in dieser Hinsicht (vorläufig?) "unklar".

Der zweite Beitrag des heutigen Kapitels stammt von Safyie Can. Es ist die erste Strophe eines Gedichtes, das in ihrem Band "Poesie und Pandemie" zu finden ist, der Gedichtband ist im Wallstein Verlag erschienen.

Der Zauberstab

1.
Ich wünschte niemand müsste weinen
wünschte kein Tier müsste leiden
wünschte mir einen Zauberstab
doch ich hab keinen.
Ich wünschte ich könnte alle Wunden heilen
jedes Kind beschützen durch Umarmen.

Ich wünschte ich hätte eine Wundertinktur
eine Art Zaubertrank gegen das Ungerechte
gegen Diskriminierung, all die Schmerzen
da draußen
doch hab ich keinen.

Ein Blumenmeer soll sich
auf jeden von uns entladen.

Ach der Zauberstab!
Ach unsere heißen Wünsche, dass alles sich zum Guten wenden möge, zum Guten wenden ließe! Es wäre wie im Märchen (allerdings haben Märchen oft einen Ikshaken und sind nicht unbedingt ein Beispiel für glückliche Wendungen). Im Märchen wäre so ein Zauberstab vermutlich bald ein wild umstrittenes Objekt der Begierde. Im Gedicht erinnert er uns an unsere Möglichkeiten und Unmöglichkeiten.
Die weiteren Strophen könnt ihr in der Leseprobe des Gedichtes nachlesen und auf dieser Website seht ihr auch einige Collagen von Safyie Can.

Und nun die kleine Schwindelei als Abschluss. 1991 ist ein kleines Bändchen namens "Nütze die Jahre" in der Edition Mohs bei Dieter Scherr erschienen. Das Bändchen enthielt Gedichte von Ilse Kilic und Fritz Widhalm, halb halb. Ilse Kilic war damals 33 Jahre alt und jetzt ist sie 31 Jahre älter. So ist das. Die Zeit kann sich selbst überholen, nicht nur wenn man Gedichte schreibt. Ich habe lange überlegt, welches Gedicht ich an dieser Stelle zitieren will. Viele sind mir ein bisschen unheimlich. Die meisten sind düster, aber sie geben der Düsternis keinen Namen. Ich habe eine ausgewählt, das eher lustig ist, wenngleich es sich über das Lustigsein lustig macht. Aber lest selbst:

stille orte der tapferkeit

es ist
äußerst schwierig
beim überqueren
einer mittelbreiten
fahrbahn auf dem fallweise
vorhandenen zebrastreifen
ausschließlich die weißen
streifen zu betreten.
anzeichen der ermüdung
machen sich häufig
bereits vor erreichen
der fahrbahnmitte
bemerkbar.
ganz abgesehen von
der komischen wirkung
der übertriebenen
schrittgröße
auf etwaige
zuseherInnen.
so ist das leben.

Warum das lustig ist? Vielleicht deshalb, weil der Alltag ja auf kleine Obsessionen angewiesen ist, kleine Abweichungen vom geplanten Funktionieren? Vielleicht auch deshalb, weil "Tapferkeit" in diesem Zusammenhang selbst eine Übertreibung ist? Vielleicht hatte ich damals die Tendenz, die weißen Streifen den dunklen vorzuziehen und aus dem Gelingen eines solchen Vorhabens das Gelingen anderer Vorhaben abzuleiten, irregeleitete Kausalbezüge sozusagen? Vielleicht hat das Gedicht auch etwas mit der gelernten Hilflosigkeit zu tun, die ich zum Thema meiner niemals fertiggestellten Dissertation gemacht hatte und die auch Kausalbezüge und deren Wahrnehmung unter die Lupe nehmen wollte. Der lakonische Schlusssatz "so ist das leben" kichert jedenfalls mit freundlichem Spott vor sich hin. Aus heutiger Sicht drängt sich allerdings noch eine Frage auf: Wie viel Fahrbahn braucht "der Mensch", und wo und wann und warum?
Ein bisschen Info über das kleine, längst vergriffene Büchlein kann man unter 1 / Ilse & Fritz auf unserer homepage finden.