Im letzten Kapitel habe ich von Ilsen  gesprochen, Ilsen, von denen keine Ilse Kilic ist. Es ging um Ilse  Helbich, Ilse Aichinger, Ilse Tielsch und Ilse M. Aschner. Von Ilse  M. Aschner habe ich nun in der Mediathek ein Interview entdeckt. Es  lohnt sich, es anzusehen.
        Ich  habe im letzten Kapitel angekündigt, an die Präsentation der  hochbetagten Schreibenden, die alle so in etwa 30 Jahre älter sind  oder waren als ich es jetzt bin, ein Kapitel anzuschließen, das  Schreibende präsentiert,  die in etwa dreißig Jahre jünger sind als ich es jetzt bin. Und  als Abschluss folgt eine kleine Schwindelei. 
        Eigentlich  wollte ich das Kapitel "Allertraurigste Gedichte" nennen und  damit auch einem meiner Lieblingsfilme zuwinken, nämlich dem Film "The  saddest Music in the World" von Guy Maddin (kennt  ihn jemand?). Inhalt: Anlässlich  der Auszeichnung  der Stadt Winnipeg zur Hauptstadt des Kummers wird von  einer Brauereibesitzerin ein Wettbewerb ausgeschrieben, bei dem das  traurigste Lied der Welt prämiert werden soll. Sie will damit den  Bierkonsum ankurbeln, da traurige Menschen mehr Alkohol trinken. 
        Dann dachte ich  aber, dass ich den Gedichten nicht gerecht werde mit einem solchen  Titel und neugierig macht er vielleicht auch niemanden, vielleicht  erschrecken sogar manche Leser und Leserinnen. Also: Traurigkeit ist  zwar präsent in diesen Gedichten, aber nicht nur. 
                Ich beginne mit jopa jotakin. Das Gedicht ist  sehr kurz und steht in seinem Lyrikband "im darknet sind alle  katzen miau", der in der Edition zzoo im Jahr 2020 erschienen ist.
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        The requested URL/verteilungsgerechtigkeit was not found on this server.
        General Server at gesellschaft.com
         Ich glaube, dem ist nichts  hinzuzufügen, oder doch? 
          "Unklar!", würde jopa jotakin  vielleicht antworten, das Wort "unklar" habe ich von jopa jotakin  oft gehört und mir auch angewöhnt, selbst manchmal "unklar" zu  sagen.
        Vieles ist unklar, zum Beispiel alles. 
Der im Gedicht genannte Server  bedarf jedenfalls einer - hm, wie nenne ich es -  Generalüberholung? Oder einfach: Ergänzung? Anders gesagt:  Verteilungsgerechtigkeit existiert als Wille und Vorstellung. Das ist  gut. Aber noch etwas dürftig. Die Zukunft der real existierenden  Wirklichkeit bleibt in dieser Hinsicht (vorläufig?) "unklar".
         Der zweite Beitrag des heutigen  Kapitels stammt von Safyie Can. Es ist die erste Strophe eines  Gedichtes, das in ihrem Band "Poesie und Pandemie" zu finden ist,  der Gedichtband ist im Wallstein Verlag erschienen.
         Der Zauberstab
        1.
          Ich wünschte niemand müsste weinen
          wünschte kein Tier müsste leiden
          wünschte mir einen Zauberstab
          doch ich hab keinen.
          Ich wünschte ich könnte alle Wunden heilen
        jedes Kind beschützen durch Umarmen.
         Ich wünschte ich hätte eine Wundertinktur
          eine Art Zaubertrank gegen das Ungerechte
          gegen Diskriminierung, all die Schmerzen
          da draußen
        doch hab ich keinen.
         Ein Blumenmeer soll sich
        auf jeden von uns entladen.
        Ach  der Zauberstab! 
          Ach unsere heißen Wünsche, dass alles sich zum  Guten wenden möge, zum Guten wenden ließe! Es wäre wie im Märchen  (allerdings haben Märchen oft einen Ikshaken und sind nicht  unbedingt ein Beispiel für glückliche Wendungen). Im Märchen wäre  so ein Zauberstab vermutlich bald ein wild umstrittenes Objekt der  Begierde. Im Gedicht erinnert er uns an unsere Möglichkeiten und  Unmöglichkeiten. Die  weiteren Strophen könnt ihr in der Leseprobe des Gedichtes nachlesen  und auf dieser Website seht ihr auch einige Collagen von Safyie Can.
        Und  nun die kleine Schwindelei als Abschluss. 1991 ist ein kleines  Bändchen namens "Nütze die Jahre" in der Edition Mohs bei  Dieter Scherr erschienen. Das Bändchen enthielt Gedichte von Ilse  Kilic und Fritz Widhalm, halb halb. Ilse Kilic war damals 33 Jahre  alt und jetzt ist sie 31 Jahre älter. So ist das. Die Zeit kann sich  selbst überholen, nicht nur wenn man Gedichte schreibt. Ich  habe lange überlegt, welches Gedicht ich an dieser Stelle zitieren  will. Viele sind mir ein bisschen unheimlich. Die meisten sind  düster, aber sie geben der Düsternis keinen Namen. Ich habe eine  ausgewählt, das eher lustig ist, wenngleich es sich über das  Lustigsein lustig macht. Aber lest selbst:
        stille orte der tapferkeit
        es ist
          äußerst schwierig
beim überqueren
einer mittelbreiten
fahrbahn auf dem fallweise
vorhandenen zebrastreifen
ausschließlich die weißen
streifen zu betreten.
anzeichen der ermüdung
machen sich häufig
bereits vor erreichen
der fahrbahnmitte
bemerkbar.
ganz abgesehen von
der komischen wirkung
der übertriebenen
schrittgröße
auf etwaige
zuseherInnen.
so ist das leben.
        Warum das  lustig ist? Vielleicht deshalb, weil der Alltag ja auf kleine  Obsessionen angewiesen ist, kleine Abweichungen vom geplanten  Funktionieren? Vielleicht auch deshalb, weil "Tapferkeit" in  diesem Zusammenhang selbst eine Übertreibung ist? Vielleicht hatte  ich damals die Tendenz, die weißen Streifen den dunklen vorzuziehen  und aus dem Gelingen eines solchen Vorhabens das Gelingen anderer  Vorhaben abzuleiten, irregeleitete Kausalbezüge sozusagen?  Vielleicht hat das Gedicht auch etwas mit der gelernten Hilflosigkeit  zu tun, die ich zum Thema meiner niemals fertiggestellten  Dissertation gemacht hatte und die auch Kausalbezüge und deren  Wahrnehmung unter die Lupe nehmen wollte. Der lakonische Schlusssatz  "so ist das leben" kichert jedenfalls mit freundlichem Spott vor  sich hin. Aus heutiger Sicht drängt sich allerdings noch eine Frage  auf: Wie viel Fahrbahn braucht "der Mensch", und wo und wann und  warum?
        Ein  bisschen Info über das kleine, längst vergriffene Büchlein kann  man unter 1 / Ilse & Fritz  auf unserer homepage  finden.