Kapitel 95: Tanz und Mut.


Ich beginne mit einem Gedicht von Arne Rautenberg. Es stammt aus dem Buch "Mut ist was Gutes", Arne Rautenberg hat die Gedichte in diesem Buch zu Bildern von Wolf Erlbruch geschrieben. Das Buch ist im Peter Hammer Verlag erschienen und um einige der wunderbaren Bilder zu sehen, müsst ihr auf die Verlagsseite gehen, dort gibt es eine Leseprobe zum anklicken.
An dieser Stelle kann ich nur sagen, dass auf dem Bild ein entzückendes Schweinchen zu sehen ist, das eine "Arschbombe" macht, das ist die etwas seltsame Bezeichnung für einen Sprung ins Wasser, mit dem Popo voran, in diesem Falle mit dem Ringelschwänzchen voran. Schaut es Euch an!
Hier das Gedicht:

was mut ist

mut ist was gutes
wenn man sich traut
vielleicht fährt man rennen
vielleicht wird man braut

oder man streut richtig schlau
chilipulver in kakao
dann schwitzt man
wie vor der katze die maus
und alle lachen einen aus

oh ja mut ist schon was gutes
mut ist was superfeines

oder mal was ganz kleines
trotz des verlorenen blutes
schlägt man die mücke am arm nicht tot

einfach weil es mut ist!
und mut ist was gutes!

Übrigens: Die vorletzte Strophe passt hervorrragend zu den Gelsenzeiten, die nun, Juli 2024, angebrochen sind, mit tag- und nachtaktiven Gelsen in unüberschaubar großer Zahl. Aber das sei nur nebenbei bemerkt.

Und was könnte besser zu einem Gedicht über den Mut passen als eines über den Tanz? Hier ist es, es stammt von André Verkauf-Verlon. Er hat es im Jahr 1985 geschrieben, erschienen ist es im Band "Seiltänzer", Edition Tarantel, Wien 2019.

Tanzend auf einem Bein

Tanzend
auf einem Bein
kann man den Nachbarn
nicht mehr treten.

Tanzend
auf einem Bein
würde man sich eher
die Hände reichen.

Tanzend
auf einem Bein
könnte man leichter
friedlich sein.

Tanzend
auf einem Bein
käme man vielleicht
noch weiter.

Es ist eine feine Sache mit dem Tanzen. Es stimmt ja wirklich, dass der Tanz den Menschen zu Erkenntnissen und, ich sage mal, zu BewusstseinserHeiterung verhelfen kann. Überdies steht man auf einem Bein so unsicher, dass es günstiger ist, die vorhandene Energie zum Erhalten eines möglicherweise gemeinsamen Gleichgewichts zu verwenden als zu diversen Feindseligkeiten. Garantie gibt der Tanz aber keine und vermutlich will er auch keine geben oder gar sein. Trotzdem wäre es einen Versuch wert, Streitgespräche und Konflikte durch Tanzen auf einem Bein zu unterbrechen beziehungsweise abzuschließen.

Abschließend ein Gedicht zum Tanz von Margret Atwood. Ich finde es so schön, weil es davon spricht, das man einander das Tanzen lernen kann. Und lehren. Und es spricht von der Unersetzlichkeit gemeinsamer Erfahrung. Und es spricht von der Vergangenheit, die immer schon vorbei ist. Ich habe in meinem lipogrammatischen Buch "Monikas Chaosprotokoll" meinen tanzenden Eltern ein Kapitel gewidmet, der Regel entsprechend, den Vokal "e" nicht zu verwenden, trägt es den Titel: "Als Mama Otti mit Papa Hans am Bonbonball war". Ja, meine Eltern gingen tanzen und ich stellte mir später vor, dass diese Tanzabende für sie eine glückliche Erfahrung waren. Im höheren Lebensalter erinnerte mein Vater sich jedenfalls gerne daran.
Hier das Gedicht von Margret Atwood. Es steht im Gedichtband "Die Füchsin", erschienen im Berlin Verlag 2020. Die Ausgabe ist zweisprachig. Auf der Verlagsseite gibt es eine Leseprobe.

Tanzen

Es war mein Vater, der meiner Mutter
das Tanzen beibrachte.
Das war mir nie klar.
Ich dachte, es wäre andersherum gewesen.
Ballsaal war ihr Stil,
ein elegantes Drehen
mit abgewinkeltem Arm und raffinierten Schritten,
ein Radio mit grünem Auge.

Immer gibt es mehr, als man weiß.
Immer gibt es Kartons,
die im Keller verstaut wurden,
ausgetretene Schuhe, in Ehren gehaltene Bilder,
Aufzeichnungen, die man später findet,
Noten, die man nicht spielen kann.

Immer mittwochs kam eine Frau
mit Walzern auf Tonband.
Sie spornte ihn an, mit ihr
quer durchs Zimmer zu schlurfen.
Sie sagte, es werde ihm gut tun.
Doch er wollte nicht.

Es ist heiß draußen. Ich werde morgen im Schwimmbad ein kleines Wasserballett inszenieren. Eine "Arschbombe" trau ich mich nicht machen.