Kapitel 96: Endlich, oh dieses wunderbare Jetzt


Vor einiger Zeit habe ich gemeinsam mit Eva Schörkhuber und Benjamin Rizy eine Veranstaltung zum Thema "Endlich" gemacht. "Endlich" kann ja sowohl ein Ausdruck der Ungeduld nach langem Warten sein, bezeichnet aber auch die Tatsache, dass alles (?) endlich ist, also nichts für immer dauert. Auf die zweite Wortbedeutung fokussierten unsere Beiträge, Benjamin Rizy etwa hielt einen Vortrag über die Lebensdauer von Elementen und warf die Frage auf, wann ein Atom eigentlich stirbt. Dazu zitiere ich jetzt Jenny Odell (aus ihrem Buch "Zeit finden"):

Ist radioaktiver Zerfall einfach Felsensterben?

Vor einigen Tagen bin ich über das Verb "immern" gestolpert (im Buch "Die Anleitungen der Vorfahren" von Ann Cotten). Ich hab dann das Zeitwort "immern" gesucht und im frühneuhochdeutschen Wörterbuch auch gefunden. Die Bedeutung ist naheliegend: "immer sein, ewig sein", wie etwa in einem der genannten Belege: "das immer immert."

Wie auch immer: Ich stelle dem "Immer" das "Jetzt" gegenüber. Das Fröhliche Wohnzimmer hat übrigens eine Anthologie zum Thema "Immer ist Jetzt" herausgegeben, wobei der Titel - nunja - etwas irreführend ist, denn natürlich ist jetzt nicht "einfach" immer, sondern, wenn man will, stehen "Immer" und "Jetzt" sogar in einem scharfen Gegensatz zueinander und können sich miteinander nur gelegentlich nähern.
Ich beginne nun mit einem Gedicht von Ludwig Fels (Es steht im Buch "Mit mir hast du keine Chance"). Hier das Gedicht:

ICH MÖCHT SO GERN MIT DIR ZUSAMMEN ATMEN

Ich möcht so gern mit dir zusammen atmen
zuvor den Wind aus den Bäumen schütteln
dass jeder Schnaufer klingt nach einem Satz.
Komm lass uns atmen
die Luft so kühl wie alte Milch, den Staub.
Ich möcht so gern
mit dir zusammen ruhig liegen, warten
Spiegel und Fenster wir blasen sie blind.
Atme wie eine Orgel, wenns geht, ich wie ein
Blasebalg, bis deine Brüste schweben
pfeif auf die Zukunft, ganz leis
ich schnarch an gegen den Tod. Lass uns
zusammen atmen, einsaugen
die Tränen, atmen wie eine verrückte Uhr.

Dieses Gedicht wendet sich an das Jetzt als Ort des Einatmens, des Ausatmens, des Daseins. des Da Seins. Ich muss jetzt daran denken, das der Dichter Gerhard Rühm in einem Interview davon gesprochen hat, dass er ein Jetzt-Fanatiker ist, und ja: Das Jetzt ist in der Tat der Ort, von dem aus es sich anschnarchen lässt gegen den Tod. Natürlich ist nicht jedes Jetzt wunderbar, aber jedes Jetzt ist, nunja, endlich. Ob sich aus dem Jetzt eine rhetorische Figur bilden lässt, ich bin nicht sicher, sie würde dann in etwa lauten:

Das Jetzt jetztet.

Diese Formulierung hätte den Klang nach schnell vorbeigehen oder jedenfalls nach Geschwindigkeit, der Jetstream ist (auch) eine starke Windströmung.
Ein weiteres Gedicht, in dem das Jetzt eine Rolle spielt, stammt von Bess Dreyer und steht in ihrem Buch "Vom aufziehbaren Blechhuhn".

jetzt, eine zufällige zustandsbeschreibung

jetzt ist ein himmelspunkt,
jetzt ist mein synapsenfeuer.

jetzt liegt in der ebene,
im tal, auf dem berg.

jetzt hat beine, arme,
flügelpaare.

jetzt ist ein tiger.
krieg ich ihn? reißt er mich?

jetzt ist himmel,
stern und hölle.

jetzt ist bitter, süß und scharf,
jetzt ist blau, gelb, rot und schwarz.

jetzt ist dunkel, jetzt ist hell,
jetzt ist sehend, jetzt ist blind.

jetzt ist krise, jetzt ist glück,
jetzt ist schierling, jetzt ist sieg.

jetzt ist tränen, jetzt ist lied,
jetzt ist klage, jetzt ist lachen.

jetzt ist gleichmut, jetzt ist wut,
jetzt ist einsam, jetzt ist mut.

jetzt ist flüstern, schweigen, schreien,
jetzt ist chamäleon, falke, hai.

jetzt lässt sich nicht zähmen,
jetzt kann aber schnurren.

jetzt beißt dir den schneid ab,
jetzt rettet das herz.

Das Jetzt hat hier wieder andere Gesichter, die es abwechselnd zeigt, manchmal auch gleichzeitig oder in der Art und Weise eines Films mit vierundzwanzig Bildern in der Sekunde. Das Jetzt kann alles, außer: immern. SCHimmern aber, das kann es. Nimmern hingegen kann es, streng genommen, nicht. Es Zimmert sich und uns eine fragile Wohnstatt, die keine dauerhafte Bleibe ist. Die eine oder andere Tröstlichkeit hält es aber bereit, Tröstlichkeiten, die kleine Köstlichkeiten sind. Das Jetzt besteht auf Anwesenheit, es ist aber immer gleich vorbei. Darin liegt auch eine ganz spezielle Trauer, denn das Jetzt kann zwar retten, aber eben immer nur für jetzt. Und auch das Jetzt kann da nur bescheiden den Blick senken, schweigend, vielleicht.
Das Gedicht von Ilse Tielsch handelt davon. Es steht im Buch "Anrufung des Mondes", das 1970 erschienen ist.

Gewöhne dich nicht

Gewöhne dich nicht
an die Sprache
gewöhne dich nicht
an die Gegend
gewöhne dich nicht
an dein Haus.

An den sanften Schnee
gewöhne dich nicht
der vor den Fenstern fällt
gewöhne dich nicht
an Namen
gewöhne dich nicht
an ein Gesicht.

Schreib auf:
es dauert nichts.
Streiche das
Immer
aus den Wörterbüchern.

Nichts bleibt.

Sprich Liebe aus
wie Regen
der vorübergeht.

Vielleicht ist das Gedicht von Ilse Tielsch das traurigste der heute vorgestellten Gedichte, weil es viel mehr das Vorübergehen betont als das Da Sein. Ich habe Respekt vor traurigen Gedichten, ein bisschen eingeschüchtert bin ich aber manchmal, wenn ich einem begegne, noch dazu, wenn es sozusagen die Prekarität der Zukunft selbst betont, die darin besteht, dass die Vergangenheit sie nicht garantieren kann.

Ich möchte mit einem tröstlichen Zitat abschließen, eines, das zurückführt in ein Jetzt der kleinen Errettungen, dorthin, wo das Jetzt sich alle Zeit der Welt nimmt, wenn auch dies nur scheinbar.

Was tun, wenn die Welt in Stücke geht? Ich gehe spazieren und wenn ich Glück habe, finde ich Pilze. Dann weiß ich wieder, dass es noch Freude gibt inmitten der Schrecken der Unbestimmtheiten.

Dieses Zitat steht im Buch "Der Pilz am Ende der Welt. Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus." von Anna Lowenhaupt Tsing. Es muss übrigens nicht zwingend ein Pilz sein, auch wenn es für Anna Lowenhaupt Tsing ein Pilz ist. Vielmehr geht es darum, Glück zu haben, um das Glück zu finden. Und hoffen, dass es Reparaturmöglichkeiten gibt, wenn das Jetzt selbst brüchig wird und mit Zerbröckeln droht.

Oh, lasst nicht alle Hoffnung fahren!