Kapitel 97: Das Rätsel der Sanftmut


Ich beginne mit einem Gedicht von Gottfried Benn. Ja natürlich, ich weiß, Gottfried Benn kann man nicht immer ohne Zweifel lesen oder gar lieben. Das nun folgende Gedicht habe ich mir vor langer Zeit abgeschrieben. Das Thema? Suche nach der Sanftheit, deren Vergeblichkeit beziehungsweise die Unmöglichkeit ihrer Verortung. Und dann gibt es noch die Bescheidenheit, die ganz verloren oder ratlos wirkt.

MENSCHEN GETROFFEN

Ich habe Menschen getroffen, die
wenn man sie nach ihrem Namen fragte,
schüchtern - als ob sie gar nicht beanspruchen könnten,
auch noch eine Benennung zu haben -
"Fräulein Christian" antworteten und dann:
"wie der Vorname", sie wollten einem die Erfassung erleichtern,
kein schwieriger Name wie "Popiol" oder "Babendererde" -
"wie der Vorname" - bitte, belasten Sie Ihr Erinnerungsvermögen nicht!

Ich habe Menschen getroffen, die
mit Eltern und vier Geschwistern in einer Stube
aufwuchsen, nachts, die Finger in den Ohren,
am Küchenherde lernten,
hochkamen, äußerlich schön und ladylike wie Gräfinnen -
und innerlich sanft und fleißig wie Nausikaa,
die reine Stirn der Engel trugen.

Ich habe mich oft gefragt und keine Antwort gefunden,
woher das Sanfte und das Gute kommt,
weiß es auch heute nicht und muß nun gehn.

Was ist das Gute und das Sanfte, das in diesem Gedicht gesucht wird, vergeblich, ein ganzes Leben lang? Ist es die Bescheidenheit von Fräulein Christian? Ich möchte dem Fräulein Christian eigentlich schon wünschen, das sie eine "Benennung" beansprucht, was ja nicht "unsanft" wäre. Etwas anders stellt sich die Frage nach dem Sanften und dem Guten im zweiten Teil des Gedichtes, ja, natürlich ist es bewundernswert, wenn Menschen an schlechten Bedingungen nicht scheitern, aber schön und ladylike wie Gräfinnen müssen sie dabei nicht unbedingt sein, wenn sie denn überhaupt weiblich sind. Ich würde der Sanftheit bessere Daseinsbedingungen wünschen. Und, bei dieser Gelegenheit, ja, auch unserer eigenen Sanftheit sollten wir gute Daseinsbedingungen gönnen, egal, welchem Geschlecht wir angehören.

Wenn ich an die Sanftheit denke, denke ich auch an eine Vorlesung von Silvia Stoller und Elisabeth Schäfer über den Text "Macht der Sanftheit" ("Puissance de la douceur") von Anne Dufourmantelle. Die Vorlesung habe ich dieses Jahr auf der Uni Wien angehört. Anne Dufourmantelle bezeichnet die Sanftheit als Rätsel, trotzdem aber als Macht. Auch sie fragt sich, woher Sanftheit und Schönheit kommen. Auch sie hat keine Antwort, es ist ihr aber wichtig, Sanftheit zu erkennen, wahrzunehmen, "für wahr zu nehmen", weil sie eine andere Art von Beziehung zwischen verschiedenen Lebewesen und Lebensweisen denkbar macht. Die Sanftheit ist aber dabei nicht einfach zurückhaltend oder bescheiden, sie kann sich selbst durchaus Nachdruck verleihen. Rätselhaft bleibt sie aber trotzdem, auch in ihrem Anspruch.

Es folgt nun ein Gedicht der Autorin May Ayim, das von einer anderen Seite (vielleicht aber doch auch einer ähnlichen) auf die Frage nach Sanftheit zugeht. Sanftheit ist ihr zufolge mit Nachsicht und Rücksicht verwandt oder könnte sich verwandt machen. Sich verwandt machen wäre eine Fähigkeit, die die Sanftheit auszeichnet, so verstehe ich auch Anne Dufourmantelle.
Das Gedicht von May Ayim steht im Buch "blues in schwarzweiß", das 1996 im Orlanda Frauenverlag erschienen ist.

ansichtssache

wer nur mit vorsicht
rücksicht übt
gesteht der weitsicht ein
daß sie in hinsicht auf die klarsicht
die nachsicht übersieht

May Ayim war eine Berliner Dichterin und politische Aktivistin. Sie hat sich in ihrem wissenschaftlichen und politischen Schaffen mit Kolonialismus und Rassismus auseinandergesetzt. Im Jahr 2010 wurde das ehemalige "Gröbenufer" nach May Ayim benannt und heißt daher jetzt May-Ayim-Ufer. Es liegt in Kreuzberg an der Spree.

An den Abschluss des Kapitel möchte ich die Frage nach dem Ende stellen, dem Ende aller Bemühungen, dem Ende der beschränkten Zeit, in der es zum Beispiel möglich ist, nach Sanftheit zu suchen oder sie selbst zu verwirklichen.
Die libanesisch-US-amerikanische Dichterin Etel Adnan fasst diese doch oft schwierige und gelegentlich auch bittere Sache mit der Endlichkeit sehr kurz und knapp, nämlich so:

The morning after

The morning after
my death
we will sit in cafés
but I will not
be there
I will not be

Etel Adnan hat sich viel mit dem Weltraum befasst, für den Kosmonauten Juri Alexejewitsch Gagarin hat sie ein langes Gedicht geschrieben, eine Faszination für das Weltall begleitet ihr Leben. Zugleich sieht sie den Griff nach den Sternen kritisch, ich zitiere aus ihrem Buch "Wir wurden kosmisch": Wir begreifen die Welt als altes Zuhause, das wir einfach wegwerfen können. Statt dass wir uns um die ökologischen Fragen kümmern, träumen wir davon, ins All zu fliegen.

Mit Gottfried Benn beginnen und die Sanftheit mit dem Ende umkreisen, geht das? Es geht, aber das Kapitel hat jetzt eine gewisse Schräglage. Nun gut, das kann vorkommen.

Ein abschließendes Zitat, zwei Gedichtzeilen aus dem Gedicht "Vorankommen" von Kae Tempest, einmal auf Deutsch und dann auf Englisch:

Gedichte sollten Fenster sein, nicht Sichten.
Das Dumme war, ich dacht, ich könnt es richten.

Let poems be windows, not the views.
The stupid part was thinking I could choose.

Und Schluss für heute. Ich schließe ab. Das nächste Kapitel werde ich "Fenster" nennen. Vielleicht.