Fritzchens Alterswerk

Seite 95

close(…)
clo
das fritzfest fand zu meinem 60. geburtstag im einbaumöbel statt. die fotos davon machte helmut schill. das nun folgende gedicht habe ich mit 60 jahren geschrieben. es wurde damals in der von barbara neuwirth herausgegebenen anthologie "AuserLesen", literaturedition niederösterreich, veröffentlicht. süße 60 jahre wurde ich am 15.07.2016. als meinen 60. geburtstagssong wählte ich "old rock n roll" von der band young fathers, aber das habe ich bereits in meinem alterswerk erwähnt. okay. das gedicht. a one, a two, a one two three four!

von oben hat man bestimmt eine gute aussicht
ein gedicht

close1
ich bin zuversichtlich und bin auch froh, sauer werde ich auch noch hinkriegen, dann hocke ich mich in eine ecke.

oder lege ich mich erst mal schlafen, ich rede schon wieder wie eine luftmatratze, der bahnhof wird größer und größer.

ist vielleicht gut so, sonst würde ich vielleicht depressionen bekommen, die dichtkunst fällt mir auf den kopf, oh, gern.

ich mache aber keine experimente, bis aufs frühstück, hallo, das frühstück tanzt mit sich selbst und irgendwann beginnt die woche.

ich habe einen moment lang die nase voll anstrengung.

der montag macht mir auf, wir schauen uns gegenseitig an, und dann, wir tauschen unsere adressen aus, gute idee.

die letzte flasche bier im kühlschrank, du schreibst doch noch, meint sie, ich fabriziere buchstaben, sechsundzwanzig.

buchstaben, wovor ich aber körperliche angst habe, bei mir läuft alles körperlich ab, mein aussehen, meine zuneigung.

eine atmosphäre, eine andere atmosphäre, mein körper ist ein großes gehirn und er hat eine sehr intime atmosphäre.

woran erkennt man die kranken.

close2
nach meinem dritten kaffee, dichte ich, wird mir die kanne unsympathisch, sechsundzwanzig buchstaben reichen nur für zwei tassen.

wenn mein körper als echt, rein, sauber und wahrhaftig gepriesen wird, ist alles zu spät, zentralröntgeninstitut.

kein mensch geht gerne steil hinauf, kein mensch fällt gerne steil herab, kein mensch hat gerne gefühle, nein, lieber nicht.

der himmel ist blau wie die donau, aber die hoffnung existiert, ich kämpfe dagegen an, meistens erfolgreich, das denke ich.

und niemand will vergessen werden, nein, niemand ist ganz frei von dunkelheit, die angst macht, das denke ich auch.

es gibt viel geschwindigkeit, die sich in staub auflöst.

whatcha gonna do without your ass, sagte der musiker sun ra, die meisten menschen sind kaum fähig, ihre gliedmaßen überhaupt zu kontrollieren, bevor sie sich in staub auflösen.

woran erkennt man die kranken.

um sechsundzwanzig dinge gleichzeitig zu tun, muss ich mir einen halt suchen, ich kann stehen, halt, ich kann sprechen.

die größte freude bereitet mir das zusammensein.

close3
meine augen sind weit offen, um mich über meine haltung zu informieren, ich zwinkere nicht, aber ich denke, dass ich noch dazu in der lage bin, ein auge zuzudrücken und zu erkennen.

ich bin sechzig und das obsessive bemühen um originalität ist mir fremd geworden, ich denke, ich bewege mich, rauf, runter.

vor, zurück, kürzertreten ist noch immer bewegung, ich gehe viel spazieren, schnell, langsam, oder ganz aufhören, laut, leise.

die größte freude bereitet mir das zusammensein.

die welt ist voll von geschwindigkeit, aber es gibt dennoch nur wenig bewegung, das wirklich wichtige ist das suchen.

woran erkennt man die kranken.

ich bin eine sammlung, seit ich denken kann, und ich denke schon mein ganzes leben lang, ich bin eine sammlung von losen tagen, wie spät ist es, ich möchte kein dichter sein.

aber ich denke, dass dies nur ein teil meines lebens ist, der vorübergeht.

ich habe wirklich glück mit mir, na gut, manchmal ist es schwierig mit dem wachbleiben und der nüchternheit.

in gewöhnlichen sozialen situationen bin ich anregend.

close4
aber wer weiß, wahrscheinlich bin ich sehr liebenswürdig, allerdings, mein körper ist mittlerweile kummer gewöhnt.

dienstag ist wandertag, ach ja, rufe ich in strengem tonfall aus, geografie gehört der menschheit, geografie, und all das übrige, leidenschaftliche sorgfalt wäre ein weg zu gehen.

in gewöhnlichen sozialen situationen bin ich anregend.

ich habe keine angst, wenn ich auf den beinen bin, die sonne geht im osten auf und im westen unter, irgendwo gibt es immer den schatten eines baumes oder auch nur eine atempause.

aber was ich schreibe, stimmt nicht ganz, nie ganz.

die größte freude bereitet mir das zusammensein.

das zusammensein entwirrt meine gedanken und wirkt auf meine stimmungen ein, es sagt, hör endlich auf mit deinem nervensystem zu konferieren, seiner größe, form und farbe.

aber ich denke, dass dies nur ein teil meines lebens ist, der vorübergeht.

ich verbringe viel zeit damit, ins gespräch zu kommen, damit, möglichkeiten zu finden, damit, mich anzufreunden, o ja.

es macht mir spaß selbstironie zu inszenieren, gewiss.

close5
ich überlege mir, meiner stimme den klang eines echten und dringenden bedürfnisses zu geben, o ja, ein bedürfnis nach langen augenblicken, unendlich langen augenblicken, gewiss.

aber ich denke, dass dies nur ein teil meines lebens ist, der vorübergeht.

ich bin nicht zufrieden mit dieser welt, ich bin wütend, ich muss darüber singen, ich muss dagegen protestieren, sagte der von mir innig geschätzte soulsänger marvin gaye.

aber was ich schreibe, stimmt nicht ganz, nie ganz.

marvin wurde von seinem vater erschossen, einem priester der pfingstgemeinde church of god, house of prayer, gewiss.

als ich kind war, erzählte mir mein vater immer von der umverteilung der produktionsmittel, das machte mich sonnig.

ich versuchte immerzu, mir die umverteilung vorzustellen und diese vorstellung fand ich wunderschön, mittwochs, o gewiss.

es macht mir spaß selbstironie zu inszenieren, gewiss.

mein vater war fabriksarbeiter, gebrüder busatis, und starb zweitausendfünf an krebs, magenkrebs, donnerstags, o gewiss.

ich bin offensichtlich überfordert mit dem sonnenschein.

close6
ich befinde mich in einem gastgarten, es ist spät geworden, aber noch hell, da der sommer über meinem kopf hockt, rot.

ich sehe naturgemäß hübsch aus, dreidimensional hübsch, ich trage eine rote unterhose und die sonnenflecken tanzen über meine kiefermuskeln, dass ich kaum den mund halten kann.

bier ist ein andächtig melancholisches getränk, dieser satz macht mich heiter, dreidimensional heiter, mit erhobenem kinn und geschlossenen augen, ich bezahle.

ich lerne aus diesem, aus jenem, ein leichter dauerschwips.

menschen, die nicht mit drogen umgehen können, bleibt nur die wirklichkeit, sagte der musiker tom waits und ich pfeife.

es macht mir spaß selbstironie zu inszenieren, gewiss.

ich fühle mich vom vergnügen angezogen, ruhig und ernst, gutmütigkeit ist meine einzige antwort, gutmütigkeit.

gutmütigkeit als abenteuer hat nichts von seiner großartigkeit eingebüßt.

weisheitszähne, mehr strebe ich nicht an, ein lieblingsscherz.

als ich kind war, erzählte mir mein vater immer von der umverteilung der produktionsmittel, das machte mich sonnig.

close7
ich bedarf keiner besonderen lust und freude, ich erwarte zusammenarbeit und kooperation und harre dem freitag, der da kommen wird, für alle, freilich, und gern, eine befehlsform.

ordnen ist auch kümmern, sagt die autorin ilse kilic, und die weltlage deprimierend, brauchen wir bereits ein schlusswort.

ich mag so vieles an dieser welt, natürlich ist das schwierig, ich suche nach möglichkeiten, ich will möglichkeiten schenken.

als ich kind war, erzählte mir mein vater immer von der umverteilung der produktionsmittel, das machte mich sonnig.

der müßiggang macht neugierig, aber auch schuldgefühle.

ich lerne aus diesem, aus jenem, ein leichter dauerschwips.

mitunter mache ich taktlose äußerungen wie: "viel erfolg beim benutzen der karriereleiter", dabei spielen meine lippen spott.

ich denke, ich darf auch in zukunft damit fortfahren, wenn ich dabei keinerlei spott empfinde, ich spitze die lippen.

o ja, mein weltverständnis ist überaus stark, gehirn, herz, auge, gehörgang, lockenwickler, ich möchte darauf hinweisen, man muss seine mitmenschen jederzeit höflich behandeln.

ich verwende auf die pflege meiner höflichkeit viel sorgfalt.

close8
ich verwende auf die pflege dieser welt viel sorgfalt, sehr viel sorgfalt, samstags wasche ich meine wäsche, arbeit macht mich nicht bange, aber jede arbeit hat ihre grenzen, geduld auch.

ich denke, ich darf auch in zukunft damit fortfahren, wenn ich dabei keinerlei spott empfinde, ich spitze die lippen.

ich putze mir nicht gern die zähne, es hilft alles nichts, das zähneputzen erzeugt bei mir leichte gedankenversunkenheit, der geschmacksnerv umklammert sorgenvoll meinen kopf.

ein schreiender kopf bewirkt dummstellen, raushalten, stur.

das schütteln des kopfes schützt mich, so ein großer kopf und so ein kleiner spiegel, ich putze mit der linken hand, lala la.

la, hinter der dichterischen haltung muss die lebenshaltung stehen, sagte raoul hausmann, hallo, da bin ich, sage ich.

ein bisschen zu viel makelloses gebiss für meinen geschmack.

ich verwende auf die pflege meiner höflichkeit viel sorgfalt.

die tatsache, dass zehn prozent der weltbevölkerung neunzig prozent des weltkapitals besitzen, zerknittert meine gestalt.

ich kann mich nicht leiden, das tröstet mich, und der himmel ist tatsächlich blau, ich pfeife von allen dächern: "schau, schau!"

close9
schau, schau, es ist ein verzweifelter versuch gegen die übelkeit anzukämpfen, klein und ziemlich leer neu geboren zu werden.

ein schreiender kopf bewirkt dummstellen, raushalten, stur.

ich bin kummervoll, sage ich mit andächtig melancholischer zunge, und was macht mich wütend, der himmel ist blau.

tatsächlich blau, im bewusstsein der nichtperfektion, natur.

vielleicht ist es gar nicht so schlimm, wenn ich ein glückspilz bin, ach, und es geschieht nichts, außer ein bisschen frische luft schnappen, richtig kaltes bier hält mich wach, sonntags.

ich verwende auf die pflege meiner höflichkeit viel sorgfalt.

ist das nicht etwas recht normales, ich bin ein amateur der reiflich überlegten höflichkeit, warum muss die öffentlichkeit immer von profis gestaltet werden, ohne rücksicht auf verluste.

und dann gehts schlag auf schlag, die gedanken schreiben sich selber fort, was sind sie von beruf, o, ich bin beeindruckt.

ich spreche viel und oft von solidarität, es gibt mir das gefühl dazuzugehören, do you remember rock'n'roll radio, zwei, drei.

die identität des menschen ist eine operation, o, doch auch das gesicht verändert sich mit der zeit, das werk verstört.

close10
das alphabet wird der unendlichen vielfalt der autobiografie nicht gerecht, schwein gehabt, denke ich, doch wahrscheinlich entspringt der wunsch nach komplexität nur unserer eitelkeit.

niemand sagt gern etwas neues, das ist nun allerdings nichts neues, alle wollen doch recht haben, gewiss, das wetter auch.

das wetter hat auch recht und ich denke, die sonne geht unter.

die identität des menschen ist eine operation, o, doch auch das gesicht verändert sich mit der zeit, das werk verstört.

ist das wetter ohne sonne kein wetter, und überhaupt, wo ist die gebrauchsanweisung in meinem aufgeräumten gedicht.

ich kann mich noch so sehr anstrengen, irgendwie wird alles zur liste, ich schreibe so viele listen, voilà, die ganze welt.

ich wäre sicher ein sehr guter gärtner geworden, o himmel.

ich spreche viel und oft von solidarität, es gibt mir das gefühl dazuzugehören, do you remember rock'n'roll radio, zwei, drei.

ich singe nicht, damit es mir besser geht. ich singe, um die welt besser zu verstehen, sagte die bluessängerin ma rainey, voilà.

und dann gehts schlag auf schlag, die gedanken schreiben sich selber fort, was sind sie von beruf, o, ich bin beeindruckt.

clo
die bluessängerin ma rainey höre ich mir immer wieder mal gerne an. es ist seltsam, wenn rockfans über blues sprechen, fallen meist namen wie charley patton, robert johnson, big bill broonzy, blind lemon jefferson, lead belly, blind willie mctell, howlin' wolf, sonny boy williamson, john lee hooker, b.b. king, muddy waters etcetera, selten sind frauen darunter. okay, manchmal eventuell bessie smith oder big mama thornton, aber das war es dann auch schon. ma rainey findet selten erwähnung. auch mamie smith nicht, die 1920 mit den song "crazy blues" die erste schwarze künstlerin war, die einen bluessong auf platte veröffentlichte. bei den männern war das angeblich 1924 papa charlie jackson mit dem song "salt lake city blues". da bin ich mir nicht ganz sicher, es könnte auch der song "papa's lawdy lawdy blues" gewesen sein. egal. es gab jedenfalls von anfang an eine menge frauen im blues, maggie jones, luella miller, elizabeth johnson, mattie hite, memphis minnie, lucille bogan, lil johnson, berta 'chippie' hill, sippie wallace, elvie thomas, geeshie wiley etcetera. und nein, das waren nicht nur sängerinnen, memphis minnie, elvie thomas und geeshie wiley spielten auch gitarre und maggie jones und sippie wallace piano.
der berühmteste song von ma rainey ist sicherlich der "see see rider blues", den sie 1924 mit ihrer georgia jazz band aufnahm, der auch der junge louis armstrong am cornet angehörte.
schluss mit blues. ich höre gerne blues. ich höre gerne pop. und manchmal höre ich auch andere musik.
aber was ich schreibe, stimmt nicht ganz, nie ganz.
was in meinem gedicht von oben hat man bestimmt eine gute aussicht nicht ganz stimmt, sind u.a. die zeilen mein vater war fabriksarbeiter, gebrüder busatis, und starb zweitausendfünf an krebs, magenkrebs, donnerstags, gewiss. ja, mein vater war fabriksarbeiter in der firma gebrüder busatis. ja, mein vater starb im jahr zweitausendfünf, aber ich weiß nicht wirklich woran. ja, mein vater hatte magenkrebs, aber schon mit 60 jahren und gestorben ist er kurz vor seinem 84. geburtstag. die aussagen meiner mutter über die todesursache sorgten bei mir eher für verwirrung. egal. ich sah meinen vater zum letzten mal weihnachten zweitausendvier, da machte er auf mich einen sehr geschwächten eindruck, er wirkte zusammengeschrumpft, spindeldürr und lag die meiste zeit im bett. als ich zum abschied seine hand hielt, wusste ich, es könnte das letzte mal sein. gestorben ist mein vater im krankenhaus. ich mochte meinen vater. er war ein feiner, mitfühlender mensch, solidarisch vom scheitel bis zur sohle und ein aufrechter linker. einer meinung waren wir zwar nicht immer, aber öfter als wir annahmen. so, und jetzt reicht mir dieser tag.

(…)
warum habe ich überhaupt auf dieses detail in meinem gedicht hingewiesen? es ist nicht wirklich von großer bedeutung, nennen wir es eine kleine verDichtung der tatsachen, eine verKürzung in strophenform, um den satz aber was ich schreibe, stimmt nicht ganz, nie ganz ein reales fundament zu errichten. aber es geht in diesem satz eigentlich nicht um dieses kleine detail, sondern um das große und ganze, um die dichtung eben. und nicht nur um die dichtung. in meinem text "ein schwarzer herrenschirm" schrieb ich 1995 heute ist mama gestorben, meine mama war aber noch quicklebendig, sie starb erst 2018 im alter von 87 jahren. für mein textICH war aber eine tote mama von nöten. mamas sterben nicht daran, weil man sie in einem text als tot erzählt. mamas gibt es überall, sie leben überall und sterben überall. papas ebenso. und auch ICH, obwohl ich weder mama noch papa bin. aber was ich schreibe, stimmt nicht ganz, nie ganz.

vorwärts zur seite 96
zurück zur seite 94
zurück zur seitenübersicht